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„Politik der Paranoia. Gegen die neuen Konservativen“, das neue Buch von derStandard.at-Videoblogger Robert Misik erscheint in dieser Woche. Im Folgenden ein gekürzter Vorabdruck des Schlusskapitels. 

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Wir haben eine gewisse Ahnung davon, wie die Konservativen ticken, wie sie „denken“ – wenn dieses große Wort in diesem Zusammenhang erlaubt ist. Mal sind sie für Reformen und „Regime Change“, oft aber gegen jeden „Wandel“. Mal beschwören sie „Werte“, dann schwadronieren sie wieder von der „realen Welt“, die sich nicht nach unseren Wünschen richte, in der vielmehr das Gesetz des Dschungels herrsche. Sie lobpreisen das Christentum, verlachen aber Pazifisten, die „Du sollst nicht töten!“ sagen. Sie lieben die kinderreiche Familie, beschimpfen aber alleinerziehende Mütter. Sie schmeißen sich an den „kleinen Mann“ ran und werfen sich kurz danach schnöselig in Eliten-Pose. Aber wie sieht die Systematik von all dem aus? Möglicherweise gibt es hinter all diesem kuriosen Eklektizismus ein strukturierendes Prinzip, einen Grundton, auf den das konservative Gehirn gestimmt ist.

Der amerikanische Sprachwissenschaftler George Lakoff, eine Kapazität der Cognitive Linguistics, hat sich genau diese Frage gestellt. Ja, so ein strukturierendes Prinzip müsse sich finden lassen, meinte Lakoff, der seit Jahr und Tag darüber forscht, wie sich Weltbilder formen, wie Sprachbilder entstehen, an Hand derer wir die Welt und die Wirklichkeit deuten. Er wusste aus seiner linguistischen Arbeit, dass wir die Welt nicht rational „begreifen“, sondern Weltdeutungen in Form von Metaphern im Kopf haben, in die wir alle weiteren Informationen einfügen. Wenn die Fakten in diesen Rahmen hineinpassen, fügen sie sich in unser Weltbild ein; wenn sie nicht in diesen Rahmen hineinpassen, werden wir sie ignorieren oder ihnen zumindest keine allzu große Bedeutung beimessen. Die Metapher, die das konservative Weltbild strukturiert, ist das Modell des „strengen Vaters“, so Lakoff. Für die Konservativen ist die Familie die wesentliche ökonomische und gesellschaftliche Einheit, mit dem Vater als entscheidender Figur. Die Konservativen haben gewissermaßen eine Geschichte im Kopf, und die lautet so: „Ja, die Welt birgt Gefahren, und der Vater muss moralisch stark genug sein, um die Familie gegen Böses zu verteidigen und vor Schaden zu schützen. (…) Weiter ist es die Aufgabe des Vaters, die Familie zu ernähren.“

Die Welt ist aber nicht nur ein gefährlicher Ort, sie ist ein harter Ort, weil es in ihr Wettbewerb gibt. Es wird immer Gewinner und Verlierer geben. Die Familie soll die Kinder zu disziplinierten Bürgern heranbilden, damit sie in dieser harten Welt bestehen können. Die Kinder müssen lernen, „gut von schlecht zu unterscheiden“, und es ist die Aufgabe des Vaters, es ihnen beizubringen.

Solche innere Disziplin, schreibt Lakoff, habe aber in der Weltdeutung der Konservativen „einen sekundären Effekt“. Wenn Menschen diszipliniert sind „und ihren Eigeninteressen folgen, dann werden sie wohlhabend“. Das bedeutet freilich, dass Moral und wirtschaftliche Prosperität miteinander verbunden sind: Jeder hat die Möglichkeit, erfolgreich zu sein. Und im Umkehrschluss heißt das: „Wenn einer nicht erfolgreich ist, dann ist er einfach nicht diszipliniert genug, besitzt keine moralische Stärke.“ Diese Ableitung erlaubt es den Konservativen, ihre „Werteorientierung“ mit Hartherzigkeit und Brutalität zu verbinden, eine Kombination, die so vielen Menschen als widersprüchlich erscheint – oder anders gesagt: wirtschaftlichen Radikalliberalismus mit moralischer Regelungswut und Strafeslust, Freiheitsrhetorik mit Schulmeisterei, die „unsichtbare Hand“ der Marktwirtschaft mit der eisernen Faust in der Sicherheitspolitik. Aber innerhalb des Rahmens der konservativen Phantasie-Ideologie ist eine solche Kombination überhaupt nicht widersprüchlich. Auch die Präferenz von Konservativen für den Abbau von Sozialprogrammen lässt sich, so betrachtet, mit einer Ethik begründen. Sozialpolitik heißt nämlich nicht nur, dass Menschen etwas erhalten, was sie nicht verdienen, sie würden auch noch belohnt für undiszipliniertes Verhalten und das würde ihnen nicht helfen, zu moralisch höherwertigen Menschen zu werden. Im Gegenteil, sie würden in ihrer Undiszipliniertheit bestärkt.

Lakoffs Modell ist durchaus erhellend, auch wenn man nicht jeden Satz wörtlich nehmen muss. Zunächst: Weltbilder stützen sich auf einen Rahmen der Weltdeutung, sind tief in der Mentalität eines Menschen verwurzelt. Der schrille Neukonservativismus ist ein Mechanismus der Abwehr, eine Art mit „Unsicherheit und Angst“ umzugehen: die Welt draußen ist voller Gefahren, und gegen die kannst Du Dich nur alleine oder mit Deinen engsten Angehörigen verteidigen. Konservative sind in stetiger Abwehrstellung. Für sie stehen Menschen primär in Konkurrenz zueinander, dass auch Kooperation ein Prinzip menschlicher Interaktion sein könnte, kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn. Der Konservative neigt zu Dogmatismus, mag keine Ambivalenzen, vermeidet Unsicherheiten, benötigt „kognitive Schließung“, schreiben die US-Psychologen Jack Glaser, Frank Sulloway, Jon Jost und Aric Kluglanski als Resümee einer breit angelegten Untersuchung, die sie im renommierten „Psychological Bulletin“ veröffentlichten. Auch andere Studien zeigten, dass Konservative die Welt eher als Bedrohung erleben als Progressive: So ergab eine Untersuchung in Großbritannien, dass bei konservativen Politikern durchschnittlich 50 Prozent aller Träume als Alpträume zu bewerten sind, bei Progressiven liegt der Wert bei 18 Prozent. Rechte wachen also viel öfter schweißgebadet auf als Linke.

Aber es gibt eine gute Nachricht: Die Welt ist nicht so, wie die Konservativen sich dies in ihren Angstphantasien ausmalen, und auch die Menschen sind nicht einfach Raubtiere, im Kampf alle gegen alle verstrickt, wie die Konservativen glauben. Das soll natürlich nicht heißen, dass es nicht im zwischenmenschlichen Verkehr zu Gewalt, Mord, Totschlag und groben Gemeinheiten kommt – ohne Zweifel geschieht das. Es wäre lächerlich, das zu leugnen. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man davon ausgeht, dass die Menschen quasi sozio-biologisch auf Konkurrenz und Kampf programmiert sind, wie das die Konservativen tun, oder ob man annimmt, dass sie sehr wohl auch zur Zusammenarbeit, zu Altruismus und Generosität fähig sind und dass sie möglicherweise auch das Leiden ihrer Mitmenschen bekümmert. Menschen sind vielleicht sogar primär auf Kooperation gestimmt, und zwar, weil das für jeden einzelnen viel nützlicher ist, als andauernd im Kriegszustand mit dem Nachbarn zu stehen, aber auch, weil sie ein moralisches Empfinden haben. Sie wissen, dass sie mit anderen verbunden sind.

Daraus folgt, dass die „spontane Philosophie“, die instinktive Weltdeutung der Konservativen, einfach auf Imagination beruht. Das Weltbild der Progressiven ist dagegen der wirklichen Welt viel angemessener.

Die Konservativen sind jene politische Kraft, die, entgegen ihrer Rhetorik, Ungleichheit und beschränkte Freiheit auf ihre Fahne geschrieben haben. Sie wollen, dass die Lebenschancen und materiellen Reichtümer grob ungleich verteilt bleiben. Und sie wollen die Freiheit der Menschen, ihr Leben zu gestalten, einschränken. Einerseits, in dem sie ihnen Moralvorschriften machen. Andererseits, indem sie dazu beitragen, dass die Unterprivilegierten in einer Lage verbleiben, die es ihnen nicht erlaubt, an Wohlstand und Fortschritt zu partizipieren.

Die Progressiven sind dagegen jene politische Kraft, die mehr Gleichheit und mehr Freiheit verfechten: mehr Gleichheit an materieller Ausstattung, annähernde Gleichheit an Lebenschancen und damit die tatsächliche Freiheit, aus seinem Leben, aus seinen Talenten etwas zu machen. Bloß, was bedeutet das konkret zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Früher hatten Linke das Bild einer „idealen“ Gesellschaft im Kopf und waren höchstens unentschieden, ob man eher auf evolutionärem Weg oder besser durch eine krachende Zäsur – Revolution! – in dieses Reich der Freiheit gelangt.

Der westliche Wohlfahrtsstaat sieht sich Herausforderungen gegenüber. Eines dieser Probleme in Europa heißt „Alter“. Mitte dieses Jahrhunderts wird es in Europa um 50 Prozent mehr Alte geben als gegenwärtig. Zur Zeit geben die EU-Staaten im Durchschnitt 10 Prozent ihres Nationaleinkommens für Renten aus. Der Wert wird auf 15 Prozent steigen. Auch die Kosten für Pflege werden steigen, einerseits, weil die Menschen länger leben, andererseits, weil die zeitgenössischen Klein- und Patchworkfamilien nicht mehr genug zeitliche Ressourcen für die Pflege von Oma und Opa haben. Dänemark, das Land mit dem am besten funktionierenden Pflegesystem, gibt heute 2,9 Prozent seines Nationalproduktes für Pflege aus. In vierzig Jahren wird der Wert zwischen fünf und sechs Prozent liegen. Woher soll das Geld kommen? Die Antwort ist einfach: Es müssen mehr Menschen arbeiten, und wir müssen mehr Kinder bekommen, ansonsten werden viele soziale Errungenschaften in Frage gestellt werden. Diese beiden Ziele scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen: Die Steigerung der „Erwerbsquote“ setzt voraus, dass mehr Frauen als bisher beschäftigt sind – wenn möglich Vollzeit. Aber wie können sie dann noch Kinder bekommen? Doch dies ist kein unlösbarer Widerspruch: Denn wir sehen heute schon, dass Frauenerwerbstätigkeit und Kinder sich nicht ausschließen. Im Gegenteil: Jene Industriegesellschaften, die dem traditionellen, konservativen Familienideal anhängen, und in denen es deshalb eine relativ niedrige Erwerbsquote von Frauen gibt, werden die wenigsten Kinder geboren – in jenen Gesellschaften dagegen, in denen man die Frauen dabei unterstützt, ein eigenständiges berufliches Leben zu führen, werden die meisten Kinder geboren. Dort, wo es relative soziale Sicherheit gibt, wagen Frauen – oder Paare – die Gründung einer Familie eher, als da, wo es an solcher Sicherheit mangelt. Warum bekommen junge Menschen heute weniger Kinder? Viele glauben, dass dies eine Folge einer hedonistischen, egoistischen Kultur ist. Durch Meinungsumfragen wissen wir allerdings, dass der durchschnittliche Kinderwunsch eines europäischen Erwachsenen zwischen 2,2 und 2,3 Kindern liegt. Alle Erwachsenen, seien es Griechen oder Finnen, seien es Schweden oder Portugiesen, hätten also gerne mindestens zwei Kinder. Warum beträgt die Fertilitätsrate, also die Anzahl der Kinder, die eine Frau in ihrem Leben bekommt, in Spanien 1,3, in Österreich 1,4, in Deutschland 1,4 und in Finnland 1,8? Warum die Unterschiede? Und warum die Abweichung vom Ideal? Weil es an Kindergärten und Kinderkrippen mangelt, weil es an gesellschaftlicher Akzeptanz dafür mangelt, wenn man sein Kind ab dem ersten Lebensjahr tagsüber in eine Betreuungseinrichtung gibt und weil viele Frauen befürchten, dass sie im Berufsleben außer Tritt geraten, wenn sie Kinder bekommen und ein Jahr oder mehr Jobpause machen. Oder weil die jungen Leute einfach in zu großer Unsicherheit leben. Wo sie all diese Ängste nicht haben müssen, werden deutlich mehr Kinder geboren.

Freilich, wenn mehr Frauen arbeiten und es mehr Kinder gibt, die die künftige Erwerbsbevölkerung stellen, dann ist das nur eine notwendige Vorbedingung für Prosperität. Viel helfen würde das noch nicht, wenn sie nur das Heer der Arbeitslosen vergrößern. Allerdings gilt auch: Es gibt nicht die „fixe“, gewissermaßen beschränkte Zahl an Jobs in einer Gesellschaft. Die Anzahl der Jobs hängt von der Prosperität ab und die Prosperität wiederum von einer Reihe von Faktoren: Etwa vom Einkommensniveau und damit von der Konsum-Nachfrage oder von der Ausbildung der Menschen. Wir müssen deshalb sicher stellen, dass die Kinder, die heute geboren werden, eine möglichst optimale Ausbildung erhalten. Und es darf, da verhältnismäßig wenig Kinder geboren werden, keines zurückbleiben. Alle brauchen optimale Chancen.

Gleiche Lebenschancen geben allen Menschen die Freiheit, aus ihrem Leben etwas zu machen. Davon haben sie nicht nur als Individuen etwas, sondern wir alle: Es gibt mehr Menschen, die zum Wohlstand unserer Gesellschaften beitragen. Und es gibt dann auch mehr Menschen, die irgendwann meine Rente bezahlen. Soziale Sicherheit garantiert nicht nur den Individuen ein Leben ohne Angst und Bedrückung – sie können sich dann auch fortbilden, sie können jene Jobs wählen, die ihnen Spaß machen und in denen sie dann wohl auch mehr leisten werden. Und sie können so manches „Wagnis“ eingehen. Das Wagnis beispielsweise, ein oder zwei Kinder zu bekommen. Das macht ihnen eine Freude – und ist für uns alle gut.

Die zeitgenössischen Konservativen geben in praktisch jedem Fall die falschen Antworten: Berufstätige Frauen beschimpfen sie als maskulinisierte, egoistische Emanzen, qualitativ hochstehende Kinderbetreuungseinrichtungen werden als Institutionen zur „Verstaatlichung der Kinder“ verächtlich gemacht, Anstrengungen zur Garantie gleicher Lebenschancen werden als „Gleichmacherei“ verschrien und ein Steuersystem, das dazu dient, das Geld für all die notwendigen staatlichen Ausgaben bereit zu stellen, wird als „konfiskatorisch“ kritisiert. Selbst in Augenblicken tiefer systemischer Störungen, wie in der gegenwärtigen globalen Finanzkrise, die gerade in eine Weltwirtschaftskrise übergeht, verdammen sie öffentliche Rettungs- und Konjunkturpakete als gefährliche Einmischung des „bürokratischen Monsters“ Staat in die freie Welt des Wirtschaftslebens.

Jeder einzelne Vorschlag der neuen Konservativen ist schädlich – und zwar für so ziemlich jeden von uns.