Raoul Schrott: "Die Wirtschaft ist völlig in die Irre gelaufen, weil es für ihre Transaktionen keinen kulturellen und ethischen Verhaltenskodex mehr gab."

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Dichter Raoul Schrott wollte Liedermacher werden und singen wie Joni Mitchell. Stattdessen erklärt er das Schreiben zu einer Art des Singens und gab Homer ein neues Gesicht. Was der Seebär aus Tirol auf Inseln und in der Wüste findet, erfragte Renate Graber.

STANDARD: Sie sind gar nicht im Sturm auf einem Schiff nach Brasilien auf die Welt gekommen. Steht aber so in vielen Biografien über Sie.

Schrott: Diese Geschichte entstand bei einem Interview, wo man unbedingt wissen wollte, wer mein Vater, meine Mutter waren. Mir war das zu persönlich, aber als Tiroler ist man höflich, da erzählte ich diese augenzwinkernd dadaistische Geschichte, von der ich nie dachte, sie würde mir abgenommen.

STANDARD: Sie haben aber ein besonderes Verhältnis zu Schiffen. Sie segeln, sind mit dem britisch-königlichen Postschiff HRM Helena auf die entlegenste besiedelte Insel der Welt, Tristan da Cunha, gefahren...

Schrott: Schiffe mag ich sehr gern.

STANDARD: Weil es ums Aufbrechen und Ankommen geht?

Schrott: Ums Sichbehaupten auf dem Meer, Navigieren, Sonnenstandschießen. Zum anderen ist das Schiff ein schönes, existenzielles Symbol, etwa das Schiff als Staat. Trotzdem habe ich keinen Segelschein.

STANDARD: Weil Sie die Seemannsknoten nicht so beherrschen.

Schrott: Doch, die kann ich. Ich war nur nie lange genug an einem Ort.

STANDARD: Sie haben in Kiel Ihren Bubentraum erfüllt bekommen, als Sie den riesigen Marine-Schulsegler Gorch Fock einlaufen sahen. Ist nach einem deutschen Dichter benannt. Hätten Sie auch gern ein Schiff mit Ihrem Namen drauf?

Schrott: Nein, die Art von Eitelkeit hab ich nicht. Es gibt sowieso nichts Privateres als das, was man schreibt, den Fingerabdruck des eigenen Denkens und Fühlens, dass man den in die Öffentlichkeit stellt, ist unangenehm genug.

STANDARD: Der Deutsche hieß ja mit bürgerlichem Namen auch anders, Johann Kinau, Sie könnten ja Ihr Anagramm, Otto S. Lurch, unter dem Sie einst die Zeitschrift für fraktale Literatur herausgaben, aufpinseln lassen. Oder stimmt die Geschichte von der Zeitung auch nicht?

Schrott: Doch, das war eine wunderschöne Zeitung, alles selbst gemacht. Sie erschien drei Mal und war gleichzeitig das Programm für meine damaligen, ersten Lesungen. Wir lasen in Berlin und Zürich – mir schlotterten die Knie, denn zuvor hatte ich nur in der Schule ein paar Aufsätze vorgelesen.

STANDARD: Mit Ihren Lehrern hatten Sie angeblich Schwierigkeiten.

Schrott: Ja, die mochten mich nicht so. Wobei: Mein erstes Buch, Dada 21,22, über die Dadaisten 1921 und 1922 in Tirol habe ich dann mit meinem einstigen Deutsch- und Zeichenlehrer gemacht.

STANDARD: Es heißt, Sie wollten immer schon Schriftsteller werden. H.C. Artmann hat einmal erzählt, er hätte Sie kennengelernt, als Sie mit 13 in seiner Lesung waren.

Schrott: Stimmt ebenfalls nicht. Ich habe ihn in der Landecker Stadtbücherei entdeckt, als ich mich systematisch durchs Alphabet gelesen habe, ich muss links von der Tür angefangen haben. Die ersten drei Bücher, an die ich mich erinnere, sind Artmanns "Die Anfangsbuchstaben der Flagge", Bretons "Nadja", Camus' "Der Fremde". Aber Artmann war immer mein Vorbild, für mich ist er der Inbegriff eines Dichters. Persönlich kennengelernt habe ich ihn auf dem Westbahnhof in Wien. Ich wollte mit einem Freund nach Prag, aber wir hatten kurz vor der Grenze einen Totalschaden, sind also mit dem Zug zurück. Und da saß Artmann. Grad mal am Unfalltod vorbei brachte ich dann auch die Courage auf zu ihm hinzugehen und fragte ihn, ob er für meinen ersten Gedichtband das Vorwort schreibt. Es stimmt, ich wollte Dichter werden.

STANDARD: Weil Bücher Ihr Anker waren? Sie wuchsen in Wien, Zürich, Tunis, Tirol auf.

Schrott: Ja, Literatur war das schönere Leben. Ich wusste aber nicht, ob ich Talent habe.

STANDARD: Und, haben Sie Talent?

Schrott: Ich beherrsche das Handwerk, das ist alles, was ich über mich sagen kann. Ursprünglich wollte ich übrigens Liedermacher werden. Ich konnte ganz gut Gitarre spielen, wollte singen wie Joni Mitchell, meine Stimme hatte aber leider nur den Umfang von Leonard Cohen. Trotzdem singe ich noch heute gern.

STANDARD: Abseits der Dusche?

Schrott: Ja. Ich würde auch gern in einer Band spielen. Diese Art von sprachloser Kommunikation finde ich weit befriedigender als die, die sich bei einer Lesung herstellen lässt. Nur bei einer sehr guten Lesung löst man sich als Person auf; passiert Musikern öfter. Diese profane, sehr heutige Transzendenz finde ich sehr anziehend.

STANDARD: Sie kompensieren das aber sowieso, wenn Sie sagen: "Man singt nur, wenn man schreibt."

Schrott:
Schreiben ist auch eine Art des Singens, Poesie ein ganz wesentliches musikalisches Ausdrucksmittel. Die Poesie entstand vor der Schrift, wurde erfunden, weil sich musikalisch gebundene Sprache leichter merken lässt. Prosa ist nur die Ableitung der Poesie.

STANDARD: Sie haben sich in Ihren ersten Werken intensiv mit dem Dadaismus auseinandergesetzt, für den letzten Surrealisten, Philippe Soupault, gearbeitet. Was hat Sie daran so fasziniert? Dass die Dadaisten die Absurdität der Literatur erkannten und akzeptierten?

Schrott: Die Dadaisten waren die letzten Exponenten einer klassischen realistischen Bildung, sie hatten alle Griechisch, Latein, waren Mehrfachtalente, sie haben geschrieben, gemalt, fotografiert, Collagen, Theater gemacht. Auf der anderen Seite haben sie die Doppelbödigkeit ihrer Kunst betont, die Heilserklärung entlarvt, die die Kunst vorgibt zu bieten. Das finde ich ein sehr schönes Spiel. Wenn ich schreibe, glaube ich auch zu 150 Prozent das, was ich schreibe – gleichzeitig verrinnt aber die Lebenszeit beim Schreiben. Bei der heutigen Papierqualität vergilbt das, was wir produzieren schon in zwanzig Jahren...

STANDARD: Nicht, dass ich mich vergleichen möchte mit Ihnen, aber Zeitungen sind am nächsten Tag entsorgt.

Schrott: Das ist im Grunde dasselbe. Der Ewigkeitsanspruch wird nicht eingelöst, das macht das ganze menschliche Unterfangen absurd: Der eigene Stolz besteht darin, sein Gebäude möglichst nahe am Abgrund zu bauen, möglichst solide, aber dabei zu wissen, dass der erste richtige Sturm es hinunter wehen wird. Camus hat das in seinem Sisyphos schon beschrieben.

STANDARD: Sie haben es geschafft, das Publikum 15 Stunden an seine Sessel zu fesseln, während ihm die Ilias in Ihrer Neuübertragung vorgelesen wurde. Was fasziniert an diesen alten Geschichten?

Schrott: Für einen Dichter gehört die Beschäftigung mit der eigenen Tradition zum poetischen Handwerk. Erst durch die Auseinandersetzung mit dem Alten und Fremden kann man die Spielformen des Menschlichen vergleichen. Sie befriedigt existenzielles, anthropologisches Interesse: Was macht den Menschen aus, die Abgründe, das Schöne? Zudem ist es ganz tröstlich, ein Mal im Leben Homer zu sein – wenn man schon den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen muss.

STANDARD: Ist für Sie Schreiben wirklich so arg? Wie "Einzelhaft"?

Schrott: Gedichteschreiben ist die größte Lust, die man sich vorstellen kann. Aber zwei, drei Jahre mit den Figuren eines Romans unter einer Decke stecken, ist anstrengend. Je mehr man sich hineindenkt, desto mehr verliert man sich. Ich bin aber schon ganz gern ich selbst.

STANDARD: Sind Sie dann nach jedem Buch ein anderer?

Schrott: Ein bisschen schon. Aber hinter Ihrer Frage steckt die Idee, es gebe ein konstantes Ich. Für mich ist das Ich, das Subjekt aber etwas sehr Wandelbares. Als könnte es verschiedene Aggregatszustände annehmen, einmal Wasser, einmal Dampf, dann Eis, dann Gas. Deshalb liebe ich die Spielformen der Kunst so sehr, weil sie dieses Flexible, das Metamorphosenhafte ausnützen können und diesem Ich eine andere Figur, Sprache, Denkweise, Gefühlsart geben können.

STANDARD: Noch kurz zurück zur Ilias: Was interessiert das Publikum heute noch daran?

Schrott: Ehrlich gesagt, was "das Publikum" daran interessiert, weiß ich nicht. In Abwesenheit von Reich-Ranicki und Elke Heidenreich stellt sich angesichts der heutigen Überproduktion sowieso die Frage, nach welchen Kriterien man Bücher aussucht: Die Zeit als Selektionsmechanismus ist da ein sehr interessanter Richter über die Qualität des Textes. Und da gibt es kaum einen Text, der wie die Ilias so viele Jahrhunderte überdauert, solch einen großen Einfluss gehabt hat und so oft gelesen wurde. Der Text wurde auch zur politischen Instrumentation verwendet; die Ilias wurde als Nation-Building in der Antike benutzt, als literarisches Manifest für die Einigung Deutschlands 1870/71 benutzt. So wurde Homer zur Galionsfigur des Bildungsbürgertums, des Bildungswesens. Das wirkt bis ins Jetzt; die meisten Gräcisten lesen die Ilias immer noch so, dass Achilles der große Held, das reinigende Ideal ist. Eine Leseweise, die sich mit dem Text nicht bewahrheiten lässt. Achilles ist ein unreifer Mensch, wie alle Charaktere in der Ilias ein gebrochener, der in seinem Rachebedürfnis jedes menschliche Maß verloren hat.

STANDARD: Brad Pitt in "Troja" hin oder her, Achill ist kein Held?

Schrott: Sein Heldentum stammt aus der Rezeptionsgeschichte, ausgelöst im 19. Jahrhundert, in dem die Deutschen heraus finden wollten, wer sie sind, woher sie kommen. Damals kam es zu dem Postulat, griechischer und deutscher Geist seien wesensverwandt. Die Deutschen instrumentalisieren die Vergangenheit permanent. Was wir als Österreicher mit Sisi betreiben, mit Andreas Hofer, mit Kaiser Franz Joseph oder dem Neutralitätsgesetz, das machen die Deutschen mit Homer.

STANDARD: Sie schreiben in "Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe", Homer sei Schreiber in assyrischen Diensten gewesen, Troja liege im Orient. Bisher war Homer griechischer Sänger, seine Ilias beschrieb Europas Entstehung im abendländischen Troja. Sie brechen Tabus. Gute PR?

Schrott:
Ich habe es darauf nicht abgesehen. Ich wollte ja selbst Details finden, die meine These widerlegen, aber je weiter ich grub, umso mehr plausibles Material kam und kam und kam. Die Deutschen sagen nun: Der erste Grieche ist Homer, wenn der vom Osten kontaminiert ist, dann ist die Idee Europas kontaminiert. Da herrscht ein völlig ahistorisches, ideologisches Weltbild, das nie Realität war. Jeder Althistoriker, jeder Archäologe weiß das. Es gibt keinen Unterschied zwischen West und Ost, Nord und Süd, es gibt da keine Dichotomie, sondern permanenten Austausch: Alle kulturellen Errungenschaften, auch in Europa, entstammen Adaptionen, Assimilationen, Akulturation.

STANDARD: Was ist Europa? Gehörte die Türkei in die EU?

Schrott: Rein geschichtlich ist der Raum Europas nicht zu definieren, die Grenzen wanderten mit den Handelsströmen. Nach Definition der Geografen reicht es sogar bis nach Afghanistan. Ob die Türkei Teil der EU sein kann, ist eine politische Frage. Wie groß das Konstrukt EU werden kann, ohne dass das Staatsschiff unnavigierbar wird, weiß ich nicht. Aber grundsätzlich zu sagen, Europa hört am Bosporus auf, ist eine politische Behauptung, die geschichtlich nicht legitimierbar ist.

STANDARD: Sie nehmen im Gegensatz zu Ihren Kollegen fast nie zu politischen Themen Stellung. Warum?

Schrott: Bei uns werden politische Aussagen von Schriftstellern übergewichtet. Ein Autor steht immer unter Originalitätsdruck, Politik ist aber nicht immer eine Frage von Originalität.

STANDARD: Sie sagten aber jüngst in einer Rede, "Literatur ist der Rechnungshof der Gesellschaft".

Schrott: Was die Denkweise betrifft. Die Literatur ist weit politischer, wenn sie sich aufs Menschliche bezieht. Mord, Kinderschändung, Ehestreitigkeiten zu beschreiben ist weit anarchischer, amoralischer, geht weit tiefer als Politik, die die Komplexität des Menschlichen simplifiziert. Das Wahre an Kunst und Literatur ist, wenn sie dieses Menschliche schildert, das Bestialische wie das Karitative.

STANDARD: Sie sagten auch, Wohlstand sei "die Rendite der Kultur". Jetzt sieht man, dass Renditen endlich sind. Wo blieb da die Kultur?

Schrott: Die Wirtschaft ist völlig in die Irre gelaufen, weil es für ihre Transaktionen keinen kulturellen und ethischen Verhaltenskodex mehr gab. Ich war im Herbst bei einem Seminar mit CFOs eingeladen, allein das Vokabular, das da verwendet wird: nur amerikanische Begriffe. Wenn man aber die Begriffe nicht mehr selbst bilden kann, kann man auch ihre Bedeutung nicht mehr selbst definieren und ist schon allein sprachlich von fremden Modellen abhängig – und sprachliche und gedankliche Abhängigkeit gehen dann parallel.

STANDARD: 1999 reisten Sie, mit seekranken Krokodilen an Bord, zur winzigen Insel "Tristan da Cunha" zwischen Cap Hoorn und Cap der Guten Hoffnung: 300 Einwohner, Vulkan, Meer, Strand. Darüber schrieben Sie 720 Seiten. Was hat Ihnen dort so gefallen?

Schrott: Ein Schriftsteller kann sich nichts Besseres vorstellen: Ein Mikrokosmos, der den gesamten Makrokosmos abbildet. Da lassen sich 500 Jahre Weltgeschichte nachzeichnen; Portugiesen, Holländer, Briten, alle besaßen diese Insel.

STANDARD: Maria Theresia auch, zu Zeiten ihrer Nikobaren-Abenteuer.

Schrott: Ja, William Bolts nahm die Insel für sie und Franz von Lothringen, die ihm Expeditionsschiffe ausrüsteten, in Besitz. Er verkaufte die Insel, begab Aktien darauf und ist mit dem Geld der Anleger abgetaucht. Spekulation der damaligen Globalisierung.

STANDARD: Am liebsten reisen Sie in die Wüste – weil sie so leer ist?

Schrott: Wüste gilt als leer, ist somit riesige Projektionsfläche für unsere Sehnsüchte, Wünsche, Ideen. In Wirklichkeit ist sie sehr belebt, von den Spuren der Jahrtausende. Für mich ist die Wüste ein großer Erkenntnisraum. An ihr zeigt sich, dass die menschliche Zeit in völlig anderen Dimensionen abläuft als das eigene Leben; dass gegenüber dem Sand und dem Gestein unser Leben dem einer Fliege gleichkommt.

STANDARD: Apropos, Sie arbeiten mit einem Hirnforscher über Dichten und Denken. Was werden Sie uns erzählen zu Neurologie und Poesie?

Schrott: Ich werde die pragmatischen Zusammenhänge beleuchten. Ich habe mich immer gefragt, warum bei einem Gedicht so viel Weiß auf der Seite ist. Ein Vers dauert im Schnitt drei Sekunden, weil man danach Atem holen muss – dachte ich. War aber falsch: Die Neurologie weist nach, dass unser Arbeitsspeicher, beim Reden und Zuhören, im Drei-Sekunden-Rhythmus funktioniert. Die Gedichtlänge ist also die ideale Verpackungsgröße für Information.

STANDARD: Wie unromantisch.

Schrott: Ich sehe das in völliger Selbstreflexität, ohne große, artifizielle Schleife. Sonst wäre es schade um meine Zeit, da könnte ich genauso gut LSD nehmen.

STANDARD: Führt mich zur letzten Frage: Worum geht's im Leben?

Schrott: Ums Leben selbst, sich in aller Breite und Tiefe damit auseinanderzusetzen. Es auszukosten, da, wo es schön ist, und ertragen zu können, wenn es schrecklich ist. (Renate Graber, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.1./1.2.2009)