Raus aus der Monotonie des "Beeperinnen"-Daseins: "All jenen, die einmal hinter einer Kasse gearbeitet haben" widmete Anna Sam, Ex-Kassiererin und aktuelle Bestseller-Autorin Frankreichs, ihr Buch

Foto: Standard/Stefan Brändle

An guten Tagen fühlt sie sich wie auf einem Logenplatz. Dann sieht sie kuriose Geschöpfe vorbeiziehen und in ein Kabel schreien, das ihnen am Hals baumelt: "Ich bin schon an der Kasse! Hättest du nicht vorher sagen können, dass du noch Bananen brauchst?" Wir sind im Supermarkt, nicht im Theater. Der Monolog des genervten Mannes geht weiter: "Ausgehen? Heute Abend? Und was ist mit deinem Schwindelanfall? Eine Sekunde!" Wirft einen Blick auf den Kassenzettel, zählt 13,50 Euro, geht ab.

Auf der Bühne des Lebens verbleibt die Kassiererin: Anna Sam, 29 Jahre alt, acht Jahre in einem Leclerc-Einkaufszentrum in der Bretagne. Zuerst zur Finanzierung ihres Studiums, später weil sie mit ihrem Literaturdiplom keine angemessene Arbeit fand. Heute ist sie fast so etwas wie eine Theaterkritikerin. Die beleibte Frohnatur notierte minutiös, was ihr im Laden so alles über den Weg lief. Zum Beispiel jene Frau, die ihren leeren Einkaufswagen an den Schluss der Warteschlange stellt, um dann zwischen den Regalen zu verschwinden.

Die anderen Kunden rücken inzwischen langsam vor und stoßen den Wagen diskret zur Seite. Im letzten Akt kehrt Madame mit einem Berg von Artikeln auf den Armen zurück und verlangt natürlich ihren Warteschlangenplatz zurück, doch damit sind nicht alle einverstanden. Die Kassiererin verschont uns mit der dramatischen Schlussszene. "Ich zähle auf meinem Logenplatz die Punkte", schrieb sie lapidar in ihren Blog namens caissierenofutur.over-blog.com.

Pariser Verleger wurden auf die persönliche Internetseite aufmerksam, und Anfang 2008 schrieb die Kassiererin ein Buch über ihre Erfahrungen. Allein in Frankreich gingen mehr als 100.000 Exemplare des Bestsellers weg, bis nach Taiwan wurde und wird er übersetzt.

Anna Sam konnte ihren Job an den Nagel hängen. Als sie sich von ihren Kolleginnen im Pausenraum verabschiedete, gab es von der Firma weder Champagner noch Orangensaft. So was ist im Supermarkt nicht üblich, wenn eine Kassenfrau geht. "Träumen Sie nicht. Sie sind Kassiererin, nicht Notar", schrieb Sam in ihrem Buch, gewidmet "all denen, die einmal hinter einer Kasse gearbeitet haben" . In Frankreich dürften es 170.000 sein, in Deutschland eher mehr. Empfängt sie heute einen Journalisten in ihrem Pariser Verlagshaus, sagt sie öfters noch "wir" , wenn sie von den Kassiererinnen spricht. Manchmal auch "wir Beeperinnen". Wir stemmen pro Stunde 800 Kilogramm Waren am Scanner vorbei, weiß Anna Sam beispielsweise. Sie hat es selbst errechnet. "Das nutzt den Körper ab, Muskeln und Knochen", sagt sie und erzählt von ihren Sehnenentzündungen an den Schultern, der Wirbelsäule, den Fingern.

Anna Sam rechnete aus, dass eine Kassiererin - es ist selten ein Mann - alle drei Minuten einen neuen Kunden bedient. Sie sagt täglich 250-mal "Guten Tag", 250-mal "Danke-Auf-Wiedersehen" ; sie fragt 200-mal "Haben Sie eine Firmenkarte?" , bittet 70-mal um die Code-Eingabe, gefolgt von: "Sie können die Kreditkarte zurückziehen." Als Roboter fühle sie sich deswegen nicht, meint Sam: "Ein Roboter lächelt nicht."

Macht die Monotonie auf die Dauer nicht verrückt oder depressiv? Kassiererinnen machen verschiedene Phasen durch, stellte Anna fest. "Anfangs hat man Albträume voller Beeps, Kunden, Strichcodes und Einkaufskörben. Einige Mädchen sagten mir, sie scannten im Schlaf weiter. Stellen Sie sich vor, die schlafwandeln und machen die gleichen Bewegungen wie an der Kasse!" Nach einigen Monaten verliere man allerdings den Sinn der Worte, alles werde mechanisch. "Einige Kassiererinnen überwinden diese Phase nie", weiß die Frau.

"Ich geriet auch in diese Mühle, doch mir gelang es, mich an kleine Dinge zu klammern." An einem Muttertag habe ihr die Direktion einen Kessel voll Rosen zum Verteilen hingestellt. Jede Kundin sollte eine zusammen mit dem Kassazettel in die Hand gedrückt erhalten. "Ich sagte den Frauen: 'Bedienen Sie sich selbst, nehmen Sie die Rose, die Ihnen gefällt!'" Die Mütter seien berührt gewesen, dass sie auswählen durften, und hätten aufrichtig gedankt. Sam: "Das tat auch mir gut."

Wir sind durchsichtig für sie

Doch das sind Ausnahmen. "Viele Kunden sehen uns gar nicht" , meint die Bretonin mit den rosa Wangen. "Wir sind durchsichtig für sie." Zumal seit der Einführung des Handys. Und wenn man einen Kunden mit dem Mobiltelefon am Ohr zum zweiten oder dritten Mal frage, ob er bar oder mit der Kreditkarte bezahlen wolle, erhalte man nur Kommentare wie: "Sehen Sie nicht, dass ich an der Arbeit bin?"

Dem Laien fällt da sogleich die passende Antwort der Kassiererin ein: "Zum Glück bin ich in den Ferien!" Doch Anna Sam winkt ab: Nur keine Scherze! Nie schnippisch antworten, das vergifte die Situation. Ruhig bleiben, die Spannung abbauen - das trichtere die Direktion jeder neuen Kassiererin ein. Aber wie das im Einzelfall zu bewerkstelligen sei, das vermag Sam zufolge niemand zu sagen: "Was, wenn einer aggressiv wird und ausrastet? Oder wenn er ein Produkt unten im Einkaufswagen durchzuschmuggeln versucht?"

Gute Frage! Anna Sam musste die Antwort selbst finden. "Das erste Mal sagte ich ungeschickt: 'Heh, Sie haben noch was in Ihrem Caddy.' Das mögen die Kunden gar nicht. Mit der Zeit sagte ich: 'Ich glaube, Sie haben da etwas vergessen.'" Das ziehe meistens; auf diese Weise könne der Kunde sein Gesicht wahren. Die Französin erlebte, wie jemand eine CD in der Camembert-Schachtel versteckte. Anna Sam muss selbst lachen: "Und wenn sie erwischt werden, sagen sie: 'Die CD war schon drin, das war nicht ich.' Kunden sind wie Kinder!" Einmal sei eine gutbürgerliche Frau um die vierzig mit einem guten Teekessel angetrabt - für 19 Euro. Auf den Hinweis, das sei nicht der richtige Preis, habe die Frau sofort zugegeben, dass sie die Etikette draufgeklebt habe. Um anzufügen: "Habe es halt versucht." Anna Sam erinnert sich aber auch an Leute, die stehlen, weil sie Hunger haben. Da hätte sie gern weggeschaut, meint die bekannte Kassiererin. Doch wenn die Direktion dahinterkomme, fliege man umgehend raus. Einem Clochard habe der Türsteher einmal das geklaute Brot bezahlt, erzählt Sam. "Das werde ich nie vergessen."

Nachhaltigen Eindruck machten auf sie auch jene Kunden, die sich über das Rollband lehnen und der Kassiererin grinsend ihre Alkoholfahne ins Gesicht hauchen. Ein linkischer Typ kam wochenlang und regelmäßig an ihre Kasse, ohne jemals ein Wort zu sagen. "An einem Samstagabend kurz vor Ladenschluss machte er mir eine Liebeserklärung", erinnert sich Sam. Sie antwortete mindestens so verlegen, sie sei leider schon verheiratet. "Der Mann zeigte sich drei Monate lang nicht mehr." Nicht alle sind so diskret. Eine Kollegin Annas hatte Bekanntschaft mit einem Kundenpaar geschlossen - bis der Mann sie fragte, ob sie ihnen nicht einen Hausbesuch abstatten wolle, für einen flotten Dreier. Als die Kassenfrau dankend ablehnte, habe der Mann noch gesagt: "Was, gefällt Ihnen etwa meine Frau nicht?"

 Ein Supermarkt ist "erotischer, als man meint", schreibt Anna Sam in ihrem Buch. Viele Paare entdeckten offenbar erst im Laden, wie verliebt sie seien. Sam weiß, woher das rührt: Im Supermarkt fühlen sich die Menschen zu Hause. "Da kennen sie nichts, geben sich, wie sie wirklich sind. Der langsamen Omi schneiden sie den Weg an die Kasse ab; oder sie kommen mit zwei Dutzend Artikeln an die Expresskasse für maximal zehn Produkte und sagen erhobenen Hauptes, sie bezahlten eben in zwei Malen. Eine schöne Gesellschaft!" Am meisten traf Sam aber ein Spruch, den sie in ihren acht Jahren mehrmals zu hören bekam: "Wenn du nicht artig bist" , sagte Mutti zum Kind, "wirst du einmal wie die Dame hier Kassiererin."(Stefan Brändle, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 07.02.2009)