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Foto: Reuters/Hashlamoun

In der Philosophie gilt Otto Neurath (1882-1945) heute als einer der interessantesten Theoretiker des "Wiener Kreises". Ökonomen und Soziologen haben seine Lebenslagentheorie wieder zu diskutieren begonnen. Die "Wiener Methode der Bildstatistik" (später: "International System of Typographical Picture Education", kurz Isotype, genannt), die ab 1925 unter seiner Leitung am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien entwickelt wurde, erlebt zurzeit einen gewissen Boom. Das vorliegende Buch stellt diese Bildersprache in einen aktuellen Rahmen: Grafiker und Theoretiker kommentieren Neuraths Projekt von heute aus, die Autoren diskutieren es unter dem Blickwinkel der modernen "Informationsgesellschaft" und rücken die grafischen Symbole der 20er-Jahre in die Grafikdesignwelt der Gegenwart - mit erstaunlichem Erfolg.

Die erste Überraschung besteht darin, dass die über 70 Jahre alten Symbole (die meisten vom Grafiker Gerd Arntz entworfen) ihre hohe ästhetische Qualität und eine große Frische bewahrt haben. Dass dies sichtbar wird, ist vor allem der hervorragenden grafischen Gestaltung des Buches zu verdanken. Der Band ist nicht nur sehr schön gemacht. Er beweist auch (und das ist die zweite Überraschung), dass die Veränderungen der Seh- und Lesegewohnheiten, die uns Computer und Internet gebracht haben, den Zugang zu Büchern keineswegs verstellen müssen.

Das Layout bietet mehrere Ebenen an, auf denen wir gleichsam einsteigen und von denen aus wir uns mit Vergnügen weiterbewegen. Was im ersten Augenblick als übertriebene Freude an verschiedenen Schrifttypen und Schriftsätzen erscheinen mag (ich selbst war zunächst eher skeptisch), erweist sich beim Lesen und Schauen als sehr überzeugendes Konzept. Beim Durchblättern lädt jede Seite dazu ein, uns umzusehen und bildstatistische Tafeln, Signaturen und Fotografien zu betrachten. Gleichzeitig läuft der Text in so übersichtlicher Form durch das ganze Buch, dass das Interesse am Weiterlesen an keinem Punkt erlischt. Und gerade weil die Wege der Aufmerksamkeit dabei ähnlich wie in digitalen Medien verlaufen, fällt einem plötzlich auf, wie angenehm es ist, diesem neuen Rhythmus zu folgen, dabei aber - ganz altmodisch - sorgfältig gestaltete Seiten aus Papier umzublättern.

Damit wird eine Schnittstelle zwischen Buch und neuen Medien geradezu sinnlich erfahrbar. Das ist nicht zuletzt deshalb reizvoll, weil die Geschichte der Medien und die mit ihr verbundenen Brüche ein Thema des Buchs sind. Neurath antwortete auf das nahende Ende der "Gutenberg-Galaxis" mit einer radikalen Modernisierung in drei Dimensionen gleichzeitig: in der Wissenschaft (vor allem in Ökonomie und Soziologie), in der Gesellschaft und im gesellschaftlichen Zugang zum Wissen. "Demokratisierung des Wissens" war für Neurath die unerlässliche Voraussetzung für jede lebendige Demokratie. Damit war freilich - und das ist bis heute anstößig - nicht die autoritative Verkündigung wissenschaftlicher Erkenntnisse an die Öffentlichkeit gemeint. Neurath wusste, dass auch Wissenschafter nicht davor gefeit sind, ihre Ergebnisse als absolute Wahrheiten darzustellen und damit zu mystifizieren.

Mit "Humanisierung" des Wissens meinte er auch die Entmystifizierung der Wissenschaften selbst: Sie müssen als provisorische menschliche Unternehmungen auf stets schwankendem Grund durchschaut werden. Er setzte "Humanisierung" aber auch gegen die "Popularisierung" (verstanden als Vereinfachung von komplizierten Theorien). Nicht so sehr Theorien und Ergebnisse, sondern vor allem die für die Wissenschaft charakteristischen "Betrachtungsweisen" und Haltungen sollten möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden. Alle sollten lernen, die Fragen, die sie interessieren, klar zu stellen und mögliche Antworten zu diskutieren - zum Beispiel "die Frage, woher es kommt, dass in Zeiten höchster technischer Entwicklung Mangel und Elend herrschen". Eine wahrhaft wissenschaftliche Betrachtungsweise sucht hier, so Neurath, nicht nach der einzig richtigen Antwort. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Faktoren, welche die Lebenschancen der Menschen beeinflussen und schärft den Blick für Alternativen. Entscheidend ist dabei nicht die Kenntnis von Details, sondern der Blick für Relationen. Genau dieser sollte durch eine Bildersprache, die Größenverhältnisse in Gruppen von Symbolen darstellt, eingeübt werden.

Neurath warnte schon früh davor, dass mathematische Genauigkeit zu einem Fetisch werden kann - und setzte seine Bildersprache dagegen: Visualisierung könne helfen, den Kern eines Arguments herauszuarbeiten. Freilich, auch die Welt der Medien kann zum Fetisch werden. Auch hier ist vom technischen Fortschritt selbst nicht alles zu erwarten. Filme zum Beispiel haben nicht nur Vorteile gegenüber den altmodischen Bildtafeln: Sie können, so Neurath, zur passiven Haltung zurückführen, der die Bildpädagogik entgegenzuarbeiten sucht. Was Neurath wohl zu Powerpoint-Präsentationen gesagt hätte? Die kritisch-nachdenkliche Dimension, die für Neuraths Modernisierungsprojekt sehr charakteristisch ist, kommt im vorliegenden Buch wohl etwas zu kurz. Aber man kann nicht alles auf einmal haben. Der Band macht so viel vom Potenzial dieses Projekts sichtbar, dass mit Sicherheit andere daran weiterarbeiten werden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9. 3. 2003)