Kein Geld, keine Nanny - keine Chance zu studieren, um der Armut zu entkommen: Angela Sutton (hier mit ihrem Sohn Ayaan) könnte ohne Gratislebensmittel und Ausspeisungen nicht überleben.

Foto: STANDARD/Herrmann

Es begann mit einem Schuss in den Bauch. In den Projects an der Jefferson Street, trostlosen Mietskasernen im Norden Philadelphias, bekriegten sich zwei Drogenbanden. Angela Sutton geriet zufällig dazwischen, mit einer klaffenden Wunde kam sie ins Krankenhaus.

14 war sie damals, und als sie nach Wochen zurückkehrte an ihre Schule, wurde sie wie zum Hohn von den kleinen Kumpanen der Drogendealer gequält. Von Albträumen geplagt, beschloss Angelas Mutter wegzuziehen, in eine Kleinstadt in den nahen Pocono-Bergen. Ein paar Monate ging es gut, dann reichte das Geld nicht mehr für die Miete, sie mussten zurück nach Philadelphia. Statt weiterzulernen, lackierte Angela in einem Schönheitssalon Fingernägel, "schöne Zeit, ordentlich Trinkgeld, es lief".

Abendschule als Ausweg

Jahzaire, ihr Ältester, wurde geboren, sein Vater machte sich schnell aus dem Staub. "Nun wollte ich doch was lernen" , sagt Angela, "der Junge sollte doch ein Vorbild haben." An der Drexel University, in ihrer Heimatstadt, studierte sie Soziologie. Ein Stipendium half. Sechs Jahre nach Jahzaire kam Ayaan, ihr zweiter Sohn, und auch dessen Vater ist inzwischen abgetaucht. Heute belegt die 32-Jährige an einer Abendschule Kurse in Kinderpsychologie, vielleicht wird daraus ja ein Beruf. Mit Menschen umgehen kann sie, bei allen heißt sie "Big Mama" , weil sie sofort hilft, wenn sie kann. "Big Maaaama" klingt es, wenn Angela es selber sagt, in breitem Singsang, wie man ihn überall hört in den Armenvierteln von Philadelphia.

Die Parrish Street liegt mittendrin. Die kleinen Reihenhäuser verfallen. Inmitten der Tristesse halten sich Inseln gepflegter Kleinbürgerlichkeit, etwa ein Altersheim mit schöner backsteinroter Fassade, Sara Allen Senior Homes. Versteckt an seinem Hintereingang liegt das, was ein wenig euphorisch "Fresh Start Cupboard" heißt, Küchenschrank "Frischer Start" . Zwanzig ausgetretene Treppenstufen führen hinab in den Keller, hinter einer Eisentür mit imposanten Schlössern stapeln sich Konserven in den Regalen: Eine Bäckerei schenkt Brot, es liegt in der Tiefkühltruhe. Jeden zweiten Dienstag wartet eine ungeduldige Menschenmenge darauf, dass sich die Eisentür zum Küchenschrank "Frischer Start" endlich öffnet. Angela Sutton ist fast immer dabei.

"Was bleibt mir übrig, von 736 Dollar im Monat kannst du nicht leben." Die eine Hälfte der Summe ist Invalidenrente, sie geht zurück auf die Schießerei, die andere Sozialhilfe. Dazu kommen Lebensmittelmarken, monatlich 300 Dollar. "Die muss ich manchmal gegen Cash tauschen, 75-Dollar-Marken gegen 50 Dollar. Ich muss die Nanny bezahlen, die auf meine Kinder aufpasst, wenn ich abends lerne."

Nur selten kommen Bettler in zerrissener Kleidung in die Cupboards und Suppenküchen. Und bei weitem nicht jeder, der Lebensmittelmarken braucht, hat keine Arbeit mehr. 36 Millionen Amerikaner sind zu arm, um sich und ihre Familien ausreichend ernähren zu können, sagt Joel Berg, ein Sozialwissenschafter aus New York. In Philadelphia lebt jeder Vierte mithilfe der Marken, die Franklin D. Roosevelt einführte, um die Folgen der Großen Depression abzufedern. Anspruch hat, wer brutto weniger als 1100 Dollar verdient.

So wie Hosea Clay und Robert Butler: Männer, denen man ansieht, wie sie sich überwinden müssen, bevor sie einen Fuß über die Schwelle einer Suppenküche setzen. Beide akkurat gekleidet, scharfe Bügelfalten in den Hosen. Hosea Clay sortiert bei UPS Pakete - nur noch 17 Stunden die Woche, wegen der Flaute. Auch Robert Butler hat immer gearbeitet. Der Lohn reichte stets gerade zum Leben. Dann wurde das Rheuma so schlimm, dass es nicht mehr ging. "Suppenküche" , sagt er leise, "das war immer so fern, das betraf mich ja nie. Aber irgendwann wird es normal und du steigst herunter vom hohen Ross." (Frank Herrmannaus Philadelphia/STANDARD,Printausgabe, 16.2.2009)