Zur Person

Herbert Watzke ist Facharzt für Innere Medizin und Hämato-Onkologie und Kardiologie. Er leitet die Allgemein-Station mit Palliativmedizin der Klinik für Innere Medizin I am Wiener AKH. 2005 hat er den ersten Lehrstuhl für das Fachgebiet Palliativmedizin in Österreich übernommen.

Foto: Standard/Andy Urban

In einer aktuellen Umfrage unter österreichischen Onkologen würden 95 Prozent zum Zeitpunkt der Diagnose einer metastasierten Krebserkrankung der Patientin sagen, dass es Krebs ist und er irgendwann (in fünf bis zehn Jahren, Anm.) nicht mehr behandelbar sein wird. "Der Wille des Patienten steht über allem", sagt Palliativmediziner Herbert Watzke vom Wiener AKH. Er ist überzeugt, dass die Wahrheit einer unheilbaren Erkrankung für den Patienten zumutbar ist, wenn sie behutsam und empathisch überbracht wird. Für ihn ist Kommunikation am Krankenbett wie eine Plattform des Vertrauens, die Arzt und Patient betreten, erfuhr Marietta Türk.

derStandard.at: Wie bringen Sie Menschen die Diagnose Krebs oder eine unheilbare chronische Erkrankung bei?

Watzke: Der Patient hat ein Recht, die Diagnose zu erfahren. Man kann ihm die Wahrheit aber auch nicht gegen seinen Willen ins Gesicht sagen. Ich weiß aber, dass Patienten die Wahrheit wissen wollen. Sie kann aber so schmerzhaft sein, dass sie es nur sehr zögerlich wagen sie zu hören.

Mit anderen Worten: In der Gesprächsführung ist es wichtig, eine Plattform der Wahrheit zu schaffen, die der Patient erkennt und betreten kann ohne dabei schwer verletzt zu werden. Er muss spüren, dass der Arzt ihm alles ehrlich und auch schonend sagen würde. Der Patient wird dann in aller Regel diese Plattform betreten.

derStandard.at: Das klingt nicht nach offener Kommunikation.

Watzke: Ich bin sehr dafür, dass alle Patienten immer alles wissen. Ich sage das deshalb so vorsichtig, weil viele Ärzte sagen, man kann dem Patienten nicht alles zumuten. Die Wahrheit ist aber sehr wohl zumutbar. Nicht indem man sie wie einen Kübel Wasser über den Kopf stülpt, sondern wie einen Mantel hinhält, in den man hineinschlüpfen kann.

Bei uns auf der Palliativstation werden alle Patienten vollständig aufgeklärt. Das Wesentliche an der Gesprächsführung ist, dass man einerseits den Patienten motiviert, Fragen zu stellen und sie andererseits nicht ungefragt beantwortet. Viele Ärzte haben eine Hemmung, weil sie davon ausgehen, dem Patienten die Wahrheit ins Gesicht sagen müssen.

derStandard.at: Welche Rolle spielt non-verbale Kommunikation?

Watzke: Patienten sehen an der Haltung des Arztes und des Pflegeteams, an der nicht-verbalen Kommunikation, wie es ihnen geht. Sie spüren, wie schlimm die Sache ist. Eines der schönsten Dinge ist, dass sich eine unglaublich starke Arzt-Patienten-Beziehung entwickelt, wenn liebvoll und empathisch aufgeklärt wird. Aufklärung schafft auch Vertrauen.

derStandard.at: Wie reagieren Sie, wenn Sie merken, dass ein Patient etwas nicht wissen will?

Watzke: Dann muss ich entscheiden, ob es eine höhere Notwendigkeit gibt, die über den Patienten hinausgeht. Ein Beispiel: Eine junge Frau, die unversorgte Kinder zurücklassen würde. Hier hat man auch eine gewisse Verantwortung den Kindern gegenüber. Dann übt man mehr Druck aus, dass die Patientin Fragen stellt, damit sie die Wahrheit erfährt. Wenn es alte Patienten sind und man weiß, der Patient will es absolut nicht wissen, ist das etwas anderes. Es gibt auch Patienten, die wollen, dass der Sohn alles erfährt, sie selber nichts.

derStandard.at: Ein Patient fragt wie lange er noch leben wird - was sagen Sie?

Watzke: Dann fragt man den Patienten wie genau er das überhaupt wissen will. Manche wollen es auf den Tag genau wissen, andere gar nicht so genau. Man gibt dem Patienten also die Möglichkeit das zu erfahren, was er zu dem Zeitpunkt erträgt. Es ist auch so, dass der Patient im ersten Gespräch nur das erfragt, was er verarbeiten kann und dann in weiteren Gesprächen die nächsten Fragen stellt.

Ein Beispiel: Leben bei einer Krebsart statistisch gesehen nach fünf Jahren noch 50 Prozent,  kläre ich darüber auf. Die Patientin hat dann die Möglichkeit sich entweder in die 50 hineinzuprojizieren, die noch leben oder in die anderen 50. Gleichzeitig kann man damit aber auch Hoffnung generieren, dass die Patientin in diese gute Gruppe fällt. Fast alle zählen sich übrigens zu der guten Gruppe.

derStandard.at: Sagen Sie jemals zu einem Patienten, dass es keine Hoffnung mehr gibt?

Watzke: Ich sage nie, dass es keine Hoffnung gibt. Es gibt viele Erkrankungen, wo man zum Zeitpunkt der Diagnose schon weiß, dass der Patient daran versterben wird. Zwar nicht gleich, aber in den nächsten Jahren, wenn sich die Behandlungen alle erschöpft haben. Dabei muss man aber auch Hoffnung generieren. Es gibt minimale Heilungschancen, obwohl es aussichtslos scheint, das erleben wir immer wieder. Aber man muss dem Patienten schon sagen, dass der Krebs einmal nicht mehr behandelbar sein wird, wenn er die Plattform betreten hat. Dann bereite ich ihn darauf vor, dass er sterben wird.

derStandard.at: Wie gehen Sie mit den Angehörigen um?

Watzke: Meist haben Ärzte die Tendenz Angehörigen mehr zu sagen, als dem Patienten. Faktum ist aber, dass es der Patient ist, der uns anvertraut ist und die Angehörigen nicht mehr wissen dürfen als er selber. 

Wichtig ist, dass die Angehörigen dabei sind, wenn der Patient aufgeklärt wird. Jeder Mensch braucht die Möglichkeit mit jemanden über seine Krankheit zu sprechen. Wir haben aber schon erschütternde Fälle gehabt, wo ein Ehepaar über Jahre nicht über den Krebs gesprochen hat, bis kurz vor dem Tod nicht, weil der eine den anderen damit nicht belasten wollte. Gerade auf der Palliativstation, bei Verschlechterung des Zustandes und im Sterben treten manchmal auch Konflikte auf, die man nicht für möglich halten würde.

derStandard.at: Versuchen Sie dann zu vermitteln?

Watzke: In Ausnahmesituationen muss man sich einmischen, aber ansonsten, wenn der Patient das nicht will, muss man es akzeptieren. Viel größer ist aber der Druck der Angehörigen. Die klassische Situation: Ein älterer Mensch kommt mit Bauchproblemen und man vermutet schon, es könnte Krebs sein. Die Kinder wollen, dass man es dem Patienten auf gar keinen Fall sagt, wenn es tatsächlich so ist. Der Grund ist meistens, dass sie fürchten, dass ihm die Nachricht verletzend beigebracht und nicht wie ein Mantel hingehalten wird. Primär ist es immer die Angst, dass die Wahrheit einen Menschen umbringen würde.

derStandard.at: Wie sagen Sie jemanden, dass er in ein Hospiz gehen sollte - die Botschaft, dass er zum Sterben dort hin geht?

Watzke: Das ist ein schwieriges Gespräch, bei dem man neue Ziele setzen muss. Menschen, die zu uns auf die Palliativstation kommen, hatten vorher relativ wenige Beschwerden vom Krebs selbst, sondern spürten die Nebenwirkungen der Chemotherapie. Sie haben bildlich gesprochen immer ihre Computertomografiebilder behandelt.

Wenn der Krebs aber nicht mehr behandelbar ist, bekommen sie Beschwerden. Dann muss man sie direkt dazu zwingen sich auf ihre Beschwerden zu konzentrieren, wie Schmerzen oder Appetitlosigkeit. Das Leben, das ihnen bleibt - egal ob Jahre oder Tage - sollen sie so verbringen, wie sie das möchten - in einer ihnen angenehmen Lebensqualität.

derStandard.at: Was, wenn jemand austherapiert ist?

Watzke: Als Palliativmediziner ist das Wort "austherapiert" ein absolutes No-No. Man kann therapeutisch für diese Menschen noch sehr viel tun: sozial-therapeutisch, psycho-therapeutisch oder spirituell.

derStandard.at: Wie gehen Sie mit Aggression um?

Watzke: Kübler-Ross hat ja die Phasen nach Entgegennahme einer schlechten Nachricht beschrieben. Eine ist eben die Aggressivität gegen den Überbringer. Das erleben wir in unterschiedlichem Ausmaß - manchmal ganz subtil, manchmal sehr offen. Wir sind dazu da das aufzufangen und abzumildern, dem Patienten zu helfen da heraus zu kommen. Und es ist nicht so wie bei Kübler-Ross beschrieben, dass die Phasen nacheinander auftreten. Sondern die Aggression kann immer wieder kommen - Sticheleien gegen die betreuende Mannschaft, gegen den Bettnachbar.

derStandard.at: Sehen Sie Kommunikation als Schlüsselfunktion der Ärzte?

Watzke: Ärztliche Gesprächsführung ist entscheidend in der Ausbildung - nicht nur für Palliativmediziner, wo ein falsches Wort arg verletzend sein kann. Auch wenn die Gallenblase heraus muss, ist das auch nicht so locker, wie wir Ärzte glauben. Auch da muss empathisch kommuniziert werden. In der Ausbildung an der Meduni Wien gibt es das immer wieder. Letztlich lernen junge Ärzte auf der Basis des Theoretischen, indem sie sehen und hören wie Kollegen oder Oberärzte mit den Patienten umgehen. Man kann nur hoffen, dass man in seiner Ausbildung auf Leute trifft, die das gut machen. (derStandard.at, 16.2.2009)