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Warum werden Schweine nicht seekrank?

Weil sie Histamin mit Hilfe eines körpereigenen Enzyms neutralisieren

Foto: Reuters/Maurizio Gambarini

Donnernd rollen die Brecher heran. Verzweifelt versuchen sieben Testpersonen, das Gleichgewicht in einer Art Rettungskapsel zu halten. Der Marine-Stabsarzt am Rand des Wellenbeckens blickt auf die Stoppuhr. "Fünf Minuten!", brüllt er. Halten die Männer durch? Oder werden sie sich im Dienste der Wissenschaft doch übergeben müssen? Knapp zwei Minuten später kapituliert der Erste. Ein junger Bursche winkt panisch aus der Luke. Der Versuchsleiter schaltet die Wellenmaschine aus. Der Proband verlässt die Versuchsanordnung, sein Gesicht weiß wie Schafskäse. Die Experimente im Trainingsbecken der Deutschen Marine in Neustadt (Holstein) haben ein ehrgeiziges Ziel: Der Mediziner Reinhart Jarisch aus Wien will in einer Placebo-kontrollierten Studie beweisen, dass sich Seekrankheit mit Vitamin C in den Griff kriegen lässt.

Fünf Millionen verschiedene Arzneimittel gegen die Reisekrankheit

"Il mal di mare", die Seekrankheit, ist eine höllische Pein: Kalter Schweiß dringt aus den Poren, das Herz rast, der Magen zuckt konvulsiv. Nach Mitteln gegen die Übelkeit sucht die Menschheit seit langem. Bei den Griechen galt ein Cocktail aus Wein und Meerwasser als Gegengift; die Römer schmierten sich in Essig gelöstes Flohkraut unter die Nase. Heute setzen Seekrankheit-Geplagte auf Salzbrezeln und warmes Cola. Andere tragen Spezialbrillen mit wackelnden Horizont-Balken in den Gläsern oder versuchen es mit Akupressur-Armbändern oder Ingwer. Allein in Deutschland verkaufen Apotheker mehr als fünf Millionen rezeptfreie Mittel gegen Reisekrankheit und erreichen damit einen Umsatz von 26,5 Millionen Euro. Nicht selten verschreiben Mediziner auch Psychopharmaka, die reichlich Nebenwirkungen hervorrufen.

Eines der bekanntesten Segler-Medikamente ist Scopoderm TTS - ein Pflaster, das den Wirkstoff Scopolamin abgibt. Mögliche Nebenerscheinungen: Unkonzentriertheit, Irritationen der Sehkraft, Verlust von Erinnerungen. Als potenziell wirksam gelten auch das Antidepressivum Doxepin sowie das Medikament Selegilin, das ursprünglich gegen Parkinson entwickelt wurde.

Schweine an Bord

Reinhart Jarisch, der in Wien eine Spezialklinik für Allergiemedizin leitet, vertritt einen neuen Ansatz. "Wie Sie vielleicht wissen", sagt er, "werden Schweine nicht seekrank." Das geht aus Aufzeichnungen der k. u. k. Marine Österreich-Ungarns hervor, die diese Tiere einst als lebende Nahrungsmittel mit an Bord nahm. Der Grund für die Immunität der Schweine? "Histamin-Abbau", so der Mediziner.

Histaminvergiftung Seekrankheit

Diese Substanz entsteht in Lebensmitteln, wenn Bakterien die Aminosäure Histidin abbauen. Besonders hoch ist die Histamin-Konzentration in verdorbenem Fleisch. Menschen würden daher sterben, wenn sie Aas verzehrten. Schweine, Löwen und Hyänen hingegen vertragen verdorbenes Fleisch problemlos. Denn sie können das Hormon Histamin ausreichend abbauen, so Jarisch: "Daher sind diese Tiere auch gegen die Seekrankheit immun." Seine verblüffende These: Bei der Seekrankheit handelt es sich im Kern um eine leichte Histamin-Vergiftung.

Die genauen Ursachen der Seekrankheit waren der Wissenschaft lange ein Rätsel. Der Organismus sei überfordert, hieß es, und die optische Wahrnehmung sei entscheidend, dachte man. Allerdings: Auch Blinde werden seekrank. Britische Mediziner wiederum fanden heraus, dass Taubstumme, bei denen das Innenohr beschädigt ist, gegen Seekrankheit immun sind. Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr scheint also von zentraler Bedeutung zu sein.

Irritierter Organismus

Heute erklären die meisten Mediziner Seekrankheit so: Die Lymphflüssigkeit in den Bogengängen des Innenohrs reagiert auf die Bewegungen des Schiffs. Haarzellen in diesem Gleichgewichtsorgan melden dem Gehirn die jeweilige Richtung der Flüssigkeitsströmung und geben so Hinweise auf die Bewegung des Körpers im Raum. Gleichzeitig treffen im Hirn aber auch Signale aus dem Sehapparat ein und aus sogenannten Propriozeptoren in Muskeln und Gelenken, die ebenfalls Informationen zur Bewegung des Körpers im Raum liefern: Unter Deck beispielsweise nimmt ein Passagier über das Auge keine Schiffsbewegungen wahr. Das Innenohr aber meldet Schaukelbewegungen, und mit den Füßen muss der Passagier sich womöglich gegen das Schwanken stemmen. Die widersprüchlichen Signale lösen im Hirn eine Art Kurzschluss aus - und der Organismus reagiert mit Seekrankheit.

Die Histamin-These, betont Jarisch, steht nicht im Widerspruch zu dieser Theorie. Sie sei lediglich eine "wichtige Ergänzung". Bei Stress, Angst, unkoordinierten Körperbewegungen und widersprüchlichen Sinneseindrücken an Bord wird im Gehirn vermehrt Histamin ausgeschüttet, so Jarisch. Erst dadurch würden die Symptome der Seekrankheit ausgelöst.

Vitamin C für den Histaminabbau

Der Arzt greift noch einmal das Thema Schweine auf: Warum können diese Tiere starken Wellengang problemlos ertragen? Schweine neutralisieren Histamin mithilfe eines körpereigenen Enzyms, der Diaminoxidase (DAO). "Und auch der Mensch kann die Seekrankheit besiegen", sagt der Forscher, "sobald es ihm gelingt, Histamin im Gehirn abzubauen." Die verblüffend simplen Gegengifte: Vitamin C und Schlaf.

Auch Untersuchungen an Ratten haben Jarisch zu dieser Überzeugung gebracht: Diese Tiere werden - im Gegensatz zu Schweinen - zwar seekrank. Doch ihr Körper gewöhnt sich bereits nach kurzer Zeit an die neuen Bedingungen, und die Symptome klingen ab. Ratten setzen unter Stress im Gehirn genau wie der Mensch Histamin frei: Sie können aber im Körper selbst Vitamin C synthetisieren. Und Ratten hilft das.

Hilfe bei Mastozytose

Der menschliche Organismus benötigt für den Histamin-Abbau ebenfalls Vitamin C, glaubt Jarisch. An Mastozytose-Patienten mit chronisch erhöhtem Histaminspiegel hat er seine Theorie bereits überprüft. Bei dieser Erkrankung vermehren sich die Mastzellen im Körper und setzten gewaltige Mengen Histamin frei, was unter anderem Durchfall und Übelkeit auslöst. Jarisch stellte fest: Wenn Mastozytose-Patienten täglich zwei Gramm Vitamin C schlucken, sinkt der Histamin-Spiegel und die Übelkeit verschwindet. Das macht auch Seekranken Hoffnung.

Kauen und schlafen

Der Mediziner aus Wien empfiehlt, Vitamin-C-Tabletten zu kauen. Denn über die Mundschleimhaut gelangt die lindernde Substanz besonders schnell ins Gehirn. Darüber hinaus solle man "Histaminschleudern" wie Rotwein, Hartkäse, Salami, Schokolade meiden. Und: "An Bord möglichst viel schlafen!" Im Schlaf sinkt der Histaminspiegel im Blut nämlich automatisch gegen null.

Andrew Clarke, Professor für Physiologie an der Charité in Berlin und Experte für Seekrankheit, ist skeptisch. "Das sind interessante Spekulationen" sagt er. Schlafen habe in der Tat eine lindernde Wirkung Jarischs Vitamin-C-These hingegen sei "gewagt". Edgar Pinkowski hingegen, Schmerzmediziner aus Pohlheim bei Gießen und seit 17 Jahren Schiffsarzt auf Großseglern, sieht das anders. Seit er von der Histamin-These gelesen hat, empfiehlt er Vitamin-C-Kautabletten, "besonders bei Menschen, die sehr stark anfällig für Seekrankheit sind".

Im Wellenbecken der Marine in Neustadt wollte Jarisch die Skeptiker nun endgültig überzeugen. Insgesamt 70 Versuchspersonen schickte er bei einem künstlichen Orkan zweimal für 20 Minuten in die Rettungsinsel. Eine Stunde vor den Tests mussten sie jeweils eine weiße Pille einnehmen: ein Placebo oder reines Vitamin C. In Fragebögen sollten sie hinterher ankreuzen, welcher Durchlauf leichter zu ertragen war, zusätzlich wurden Blutproben genommen.

Noch eine Runde

Eine Frage hat die Studie wohl endgültig geklärt: Es besteht in der Tat ein Zusammenhang zwischen Seegang und Histaminspiegel. Bei fast allen Probanden stieg dieser Pegel im Blut. Doch hilft Vitamin C wirklich? 15 Probanden stellten keinen Unterschied fest zum Placebo. Bei 33 der verbleibenden 55 Probanden erbrachte Vitamin C weniger Übelkeit und Schwindel. Bei 22 siegte hingegen das Scheinmedikament. Ein Verhältnis von 36:19 hätte aus statistischer Sicht genügt, um die Wirksamkeit von Vitamin C zu beweisen. Knapp daneben! "Es fühlt sich an wie ein vierter Platz bei den Olympischen Spielen", seufzt Jarisch.

Doch bei der Deutschen Marine glaubt man seit dieser Pionierstudie an das Potenzial der neuen Methode. "Wir überlegen, eine Langzeitstudie auf See durchzuführen", sagt Andreas Koch, Forschungsleiter am Schifffahrtsmedizinischen Institut der Marine in Kiel. Gut möglich, dass sie den endgültigen Nachweis für die Wirksamkeit von Vitamin C und Schlaf gegen Seekrankheit erbringen wird.

Andernfalls bleibt weiterhin die bewährte Faustregel alter Seebären in Kraft: "Am besten hilft Vorbeugen - und zwar über die Reling." (Till Hein, DER STANDARD Printausgabe, 23.02.2009)