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Wärmespender Trost angesichts der aktuellen Kältewelle: Vor genau 300 Jahren herrschte in Europa ein viel schlimmerer Frost.

Foto: AP Photo/John McConnico

Wien - Gierige Wölfe schlichen auch in unseren Breiten um die Dörfer. Sie attackierten Rinder und Pferdegespanne. Auch Menschen fielen ihnen zum Opfer. Der Hunger hatte die Wölfe nach Mitteleuropa getrieben. In Russland war es Ende 1708 so kalt geworden, dass sie zu Tausenden nach Südwesten wanderten. Doch auch hier fanden sie zu wenig Nahrung.

Eine der schrecklichsten Naturkatastrophen aller Zeiten wütete im Winter vor 300 Jahren in Europa. Die Menschen durchlitten die frostigste Phase der vergangenen 10.000 Jahre, viele starben. Noch in Portugal gefroren die Flüsse, Palmen versanken im Schnee. In ganz Europa lagen Rehe tot auf den Wiesen, das Vieh erfror in den Ställen, und Vögel plumpsten wie Steine zu Boden.

Schwächelnde Sonne

Das Klima war seinerzeit generell rauer als heute. Vom 15. Jahrhundert bis etwa 1850 herrschte die "Kleine Eiszeit" in Europa. Die Kälteperiode wurde vermutlich ausgelöst, weil die Sonne zwischenzeitlich an Kraft verlor. Zwischen 1645 bis 1715 schwächelte die Sonne besonders.

So richtig los ging es mit der Katastrophe dann am 1. Dezember, als der Wind großräumig auf Ost drehte. Er fächerte nun Luft aus Sibirien nach Europa. Noch ahnte niemand, dass eine tödliche Witterung folgen würde, die mehr als vier Monate Bestand haben sollte. Die Kaltluft drang allmählich nach Süden vor. Am 3. Dezember senkte sie in Wien und Zürich die Temperaturen auf minus zehn Grad und darunter. Zwei Tage später herrschte auch in Südfrankreich Frost, massenhaft gefror der Wein in den Kellern.

Nach einer kurzen Erwärmung um Weihnachten herum kam der Frost mit noch größerer Wucht zurück. Mit 40 Kilometer pro Stunde wälzte sich erneut sibirische Kaltluft in Richtung Süden. Weder Hochgebirge noch andere Luftmassen konnten die sibirische Walze stoppen.

Die Temperatur fiel mit jedem Tag weiter. In Berlin erreichte sie am 10. Januar 1709 minus 30 Grad. Vor Kälte bibbernd, erwachten die Menschen mit am Bettzeug festgefrorenen Nachtmützen. In Paris herrschten tags darauf minus 18 Grad. Selbst am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig XIV. gelang es kaum, gegen die Kälte anzuheizen.

In normalen Haushalten waren die Feuerholz-Vorräte schnell aufgebraucht. Von Skandinavien bis Italien, von Polen bis Portugal erfroren ganze Familien in ihren Wohnungen. Viele Menschen verloren Gliedmaßen, Ohren oder Nase. Hungersnöte brachen in ganz Europa aus. Und wer noch Brot besaß, benötigte ein Beil, um die gefrorenen Klumpen zu teilen.

Venedigs Lagune total vereist

Fast alles verwandelte sich in Eis. Der Frost sprengte Bäume, ließ den Boden metertief erstarren und die Gewässer in Europa zufrieren. Themse, Seine, Elbe, Donau oder Rhein waren mit Pferdewagen passierbar. Venedigs Lagune blieb bis April eine Eisplatte, die Kanäle der Stadt erstarrten bis auf den Grund. In der Bucht von Marseille fror das Mittelmeer zu. Selbst die Mündung des Tejo in Lissabon bedeckte Eis. Zitronenbäume, Palmen, Rebstöcke und Olivenbäume erfroren.

Erst Ende März gab es erste Hoffnung auf ein Ende der Kälte. Doch es dauerte, bis das Eis wich. In Hamburg wurden noch Ende März Ochsen über die Elbe getrieben. Anfang April schließlich kam der Frühling - doch der brachte nicht nur Gutes. In den Flüssen wälzte sich das Schmelzwasser. Dutzende Städte wurden überflutet.

Mit den Wassermassen schossen Eisschollen durch die Siedlungen, wodurch Zeugen zufolge "Häuser, Menschen, Schiffe und Vieh sehr großer Schaden geschah". Die schlimmste Folge des Kälte-Winters zeigte sich im Sommer: Die Ernte war großteils eingegangen. Man sah Menschen, die auf den Feldern wie Schafe grasten.

Die wohlhabenden Bewohner von Paris wurden gezwungen, Suppenküchen für die Armen einzurichten. Bauern stellten auf Fruchtwechsel-Wirtschaft um: Auf einem Feld wurden fortan wechselnde Sorten angebaut, um die Ergiebigkeit zu erhöhen. Zudem wurde die Bewässerung modernisiert, Moore urbar gemacht und Deiche aufgerüstet. Diese Agrar-Revolution bewirkte, dass Hungersnöte nach 1709 viel seltener wurden.

Und noch was Gutes hatte die Katastrophe: Die aus ihr folgenden Verbesserungen hätten dazu beigetragen, schreibt der deutsche Historiker Wolfgang Behringer, dass sich "die Anfälligkeit der Gesellschaft für Aberglaube und religiöse Verirrungen verringerte". (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Printausgabe, 21./22. 2. 2009)