Wien - Bereits im 12. und 13. Jahrhundert wurde das Gebiet der Sudeten von deutschstämmigen Bevölkerungskreisen besiedelt. Sie kamen aus Bayern, Franken, Obersachsen, Schlesien und Österreich. Während des Dreißigjährigen Kriegs wurden (nicht nur in Böhmen) großflächige Gebiete entvölkert. Erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte das Sudetenland wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung - nicht zuletzt dank der Glasindustrie. In den böhmischen Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie lebten, laut Volkszählungen, etwa 3,25 Millionen "Deutsche", die ihre Muttersprache und Kultur pflegten.

Infolge des "Münchner Abkommens" vom 29. September 1938 wurden die deutschsprachigen Gebiete von Nazi-Deutschland annektiert. Von den rund 580.000 Tschechen, die 1938 im abzutretenden Grenzgebiet lebten, mussten 150.000 bis 200.000, unter ihnen viele Staatsbeamte und deren Angehörige, das Sudetenland verlassen. Sozialdemokraten und andere Regimegegner, die vor der Nazi-Diktatur in die demokratisch regierte Tschechoslowakei geflüchtet waren, wurden nun von den deutschen Machthabern misshandelt und in Konzentrationslager gesperrt. Aus Angst vor Repressalien flüchteten 12.000 der 28.000 Juden noch im Oktober 1938 aus dem Sudetenland.

1945 erließ der damalige tschechoslowakische Präsident Edvard Benes 143 Dekrete, 1946 das Amnestie-Gesetz. Die Dekrete sollten nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes die Rechtsordnung wiederherstellen. Sie waren jedoch auch Basis der Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen und anderer Nationalitäten. Die Tschechische Republik lehnt ihre Aufhebung bis heute ab, da auf ihrer Grundlage neue Eigentumsverhältnisse geschaffen wurden.

Erst vor kurzem waren die "Benes-Dekrete" wieder ein Thema, als das tschechische Abgeordnetenhaus am 18. Februar dem EU-Reformvertrag zustimmte. Kritiker, unter anderen Tschechiens Präsident Václav Klaus, fürchteten, der Lissabon-Vertrag könnte die Frage der Dekrete wieder aufs Tapet bringen. Daher nahm das Abgeordnetenhaus gleichzeitig einen Begleit-Beschluss an, in dem eventuelle Bemühungen abgelehnt werden, die Dekrete und die Nachkriegs-Eigentumsverhältnisse infrage zu stellen. Prompt kam Kritik vom Obmann der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Österreich, dem langjährigen Wiener FP-Abgeordneten Gerhard Zeihsel.

Ein tschechischer Spitzendiplomat in Berlin stellte kürzlich klar: Das vom deutschen "Bund der Vertriebenen" geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" werde nicht nur von Polen, sondern auch von Tschechien abgelehnt. (stui/DER STANDARD, Printausgabe, 3.3.2009)