Stephen Hunt: "Das Königreich der Lüfte"
Broschiert, 780 Seiten, € 16,50, Heyne 2009.
Das ist mal definitiv kein Buch, das man sich aufs Nachtkästchen legt und noch gepflegt ein paar Seiten durchblättert, während man schon halb am Wegbüseln ist - genausogut könnte man versuchen auf einen durchrauschenden Intercity aufzuspringen. Atemlosigkeit ist das vorherrschende Tempo in "The Court of the Air", mit dem der in London lebende Autor Stephen Hunt 2007 nach über einem Jahrzehnt zum Langformat zurück gekehrt ist. Und was für ein rauschendes Comeback: Ehe man sich noch an einen irrwitzigen Schauplatz gewöhnt hat, wird man schon in den nächsten geschmissen, im Schnelltakt folgt ein Massaker auf das andere. Ein Wachrüttler-Buch also, keine Einschlafhilfe.
Zur Handlung: Vor dem in jeder Beziehung ausufernden Steampunk-Setting des Königreichs Jackals werden die beiden Hauptfiguren Oliver Brooks und Molly Templar, zwei Teenager kurz vor der Volljährigkeit, aus ihrem bisherigen Leben gerissen. Zwei Gemeinsamkeiten haben sie: Zum einen sind beide Waisen - Molly wird vom Armenhaus der Hauptstadt Middlesteel als Arbeiterin "ausgeliehen" (zuletzt an ein Bordell), Oliver lebt bei seinem Onkel im Städtchen Hundred Locks - und beide müssen erleben, wie alle Menschen in ihrer Umgebung von Unbekannten ermordet werden. Was mit der zweiten Gemeinsamkeit zusammenhängt: In beider Vergangenheit schlummern dunkle Punkte. Wer Molly einst vor der Tür des Waisenhauses abgelegt hat, ist nicht eruierbar - er scheint ihr aber ein seltenes Talent vererbt zu haben. Und Oliver verbrachte als Kind vier Jahre im Irrnebel, einem natürlichen Phänomen, das den davon befallenen Menschen übernatürliche Kräfte verleiht oder/und sie in "Monster" verwandelt, die unbarmherzig weggesperrt werden. In jedem Fall begegnet man ihnen mit größtem Misstrauen. Als Registrierter hätte Oliver also keine strahlende Zukunft zu erwarten - aber das erledigt sich ohnehin, als er die Flucht vor den Mördern antreten muss.
Oliver und Molly fliehen auf getrennten Wegen und begegnen dabei schillernden Charakteren wie dem berüchtigten Stave, einem Agenten des in der Troposphäre schwebenden Wolkenrats, der über Jackals' geheiligten Parlamentarismus wacht, der aber sein eigenes Süppchen zu kochen scheint. Oder dem Groschenheft-Reporter Silas Nickleby und einer Menge Figuren, die glattweg dessen schundigen Publikationen entsprungen sein könnten: etwa die muskelbepackte Archäologin Amelia Harsh, der mechanische Querdenker Kupferspur, die sprechende Waffe Lord Drahtbrand oder der alte Haudegen Kommodore Black. Denn neben Menschen leben auch andere intelligente Spezies in Jackals - darunter die Dampfmänner, autonome "Roboter", die mit Koks befeuert werden und in Sachen Moral und Spiritualität den organischen Weichkörpern weit voraus sind. Dass Jackals unter seiner inneren Vielfalt nicht zusammen bricht, dafür sorgen einerseits die Luftschiffe der Königlich-Aerostatischen Marine und andererseits gelebter Parlamentarismus, der selbst Oliver Cromwell erstaunt hätte: Einen König hält man sich nur, um ihn dem Volk regelmäßig zum Steinigen vorführen zu können; und damit er nicht nach der Macht greifen kann, werden ihm traditionell die Arme abgesägt.
Nun aber geht das ganze System den Bach runter: Ein bestreiktes Viertel
wird bombardiert, Gewerkschafter in den Gasminen ermordet und Arbeiter
verschleppt, die Flottenoffiziere der Luftmarine werden bei einem
Galadiner abgeschlachtet und in den unterirdischen Vierteln
Middlesteels breitet sich eine pervertierte Form des Marxismus - pardon: Carlismus - aus, die Menschen zwecks vollendeter Gleichmacherei in hybride Fleischmetaller umwandelt. Und hinter all diesen vermeintlichen Einzelereignissen - die Bluttaten rund um Oliver und Molly inklusive - steckt anscheinend ein einziger großer Plan. Hoffnung, dagegen zu bestehen, wird den ProtagonistInnen nicht einmal von göttlicher Seite gemacht, im Gegenteil: Oliver wird von einem engelhaften Wesen verkündet, dass man im Himmel angesichts der Ausbreitung des Bösen in der Welt längst an deren "Zwangsräumung" denkt - kurz: die Auslöschung allen Lebens, um Platz für einen Neustart zu schaffen. Ein doppelter Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Mutanten, Magier und Mechanische, industrielle und soziale Revolutionen, übernatürliche Wesen und physikalisch unmögliche Ereignisse (wie die Schwebbeben, bei denen Stücke aus der Erdkurste brechen und mit allem, was darauf lebt, in die Atmosphäre entschweben): Der Mix erinnert stark an China Mievilles "New Crobuzon"-Romane, mag Hunt auch nicht ganz an dessen sprachliche Wucht und politische Schärfe herankommen. Auch trägt Jackals - siehe die starke Betonung des Parlamentarismus oder die zahlreichen Anspielungen an Charles Dickens - viel deutlicher erkennbare Züge des Viktorianischen England als New Crobuzon. Und dennoch: Sollte Hunt jemals ernstlich behaupten, er hätte sich von Mieville nicht inspirieren lassen, müsste er sich hinterher den Mund mit Kernseife auswaschen. Andererseits: Wen juckt's. Angesichts all der verkappten Mittelerden, Ozeaniens und Sternenföderationen ist das nicht die abgewetzteste Kulisse. Da kann sich ruhig noch der eine oder andere Autor mehr drin austoben - vorausgesetzt er liefert eine ähnlich rasante Erzählung ab wie diese, auf die im Herbst übrigens mit "Das Königreich jenseits der Wellen" schon die nächste folgt. Mit Amelia Harsh als neuer Hauptfigur. Ein Knaller!