"Menorah" - nur eine von mehr als hundert historischen jüdischen Zeitschriften, die heute im Internet zu lesen sind.

 

Foto: UB Frankfurt/Main

Frankfurt am Main - Den Winter 1926/1927 verbrachte der Philosoph Walter Benjamin in Moskau. Er besuchte seine Freundin Asja Lacis, arbeitete an seiner Übersetzung der ersten Bände von Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit und studierte das Leben im Land der Oktoberrevolution. Seine Beobachtungen notierte er in dem berühmt gewordenen Moskauer Tagebuch.

Doch nicht nur dort. Unter dem schlichten Titel Moskau publizierte Walter Benjamin einen langen Aufsatz in der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Die Kreatur. 1926 gegründet vom jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, dem protestantischen Arzt Viktor von Weizsäcker und dem eben exkommunizierten katholischen Theologen Joseph Wittig, zählte die Publikation zu den interessantesten Kulturzeitschriften der Weimarer Republik.

Bereits nach drei Jahren musste die dem interkonfessionellen Dialog und einer aufklärerischen Frage nach der "Erziehung des Menschengeschlechts" gewidmete Kreatur ihre Existenz einstellen. Lange galt sie als vergessen.

Seit kurzem jedoch sind alle ihre Ausgaben komplett im Internet nachzulesen - Seite für Seite. Nicht nur Walter Benjamins Aufsatz über Moskau, auch ein Beitrag Martin Bubers über Mahatma Gandhis Politik im damals noch britisch regierten Indien wäre zu entdecken. Und vieles andere.

Die Kreatur ist nur eines von mehr als 100 jüdischen Periodika, erschienen von 1860 bis 1938, die nun weltweit am Bildschirm zugänglich sind. Die wichtigsten jüdischen Zeitschriften und Zeitungen des deutschsprachigen Raums bis 1938 wurden in den vergangenen Jahren unter www.compactmemory.de online bereitgestellt.

Die "Freimann-Sammlung"

Die Zeitschriften wiederum sind nur ein Teil des umfangreichen Digitalisierungsprojekts jüdischen Schrifttums, dem sich die Judaica-Abteilung der Frankfurter Universitätsbibliothek seit mehr als zehn Jahren widmet: Sie verfügt nämlich heute über die größte Sammlung wissenschaftlicher Literatur zu den Themen Judentum und Israel in der Bundesrepublik Deutschland.

Grundlage dieses Bestandes bildet die Hebraica- und Judaica-Sammlung, die zu Ende des 19. Jahrhunderts durch großzügige Spenden Frankfurter Juden gegründet wurde. Deren damaliger Leiter, Professor Aron Freimann, der sie von 1898 bis 1933 betreute, baute sie in dieser Zeit zur bedeutendsten Spezialsammlung des europäischen Kontinents aus. Ein einmaliger kulturhistorischer Schatz, der durch nationalsozialistische Plünderung und Brände infolge der Bombardierung Frankfurts während des Zweiten Weltkriegs zu großen Teilen vernichtet wurde.

Ihrer virtuellen Wiederherstellung anhand der erhaltenen Kataloge Aron Freimanns gilt der zweite Teil des Frankfurter Digitalisierungsprojekts. Jene Bände, die heute in Frankfurt fehlen, werden durch Kopien aus den Beständen anderer Bibliotheken, darunter der Österreichischen Nationalbibliothek, ergänzt. 18.000 überwiegend deutschsprachige Objekte soll die digitale "Freimann-Sammlung" (www.judaica-frankfurt.de) im Jahr 2010 umfassen - nicht weniger als die gesamte historische Literatur zur Wissenschaft des Judentums. - Eine Bibliothek ohne kontinentale Grenzen. (Cornelia Niedermeier/DER STANDARD, Printausgabe, 7./8. 3. 2009)