Das ist in der Tat ein erstaunliches Buch: eine Geschichte über zwei junge Männer und ihre Familien, ein Panoptikum der Außenseiter, der vom Abrutschen ins soziale Niemandsland bedrohten Existenzen, der Kranken und komatösen Hellseher, der verzweifelten Paare, sprechenden Dinge und herrenlosen Tiere, ein Psychogramm mehrerer unter Hochdruck stehender und folgerichtig explodierender Gewalttäter und nicht zuletzt ein wahnwitziger Stadtroman.

Wer bisher geglaubt hat, die steirische Landeshauptstadt sei ein beschauliches Plätzchen für ruhegenießende Pensionisten und abenteuerunlustige Studenten, der wird eines Besseren belehrt: Graz firmiert hier als Ort der Aggression und Düsternis, der verrottenden Villen und verrufenen nächtlichen Parks, und dort, wo sich so etwas wie Schönheit zeigt, ist sie gefährlich. Die Frequenzen, das ist nicht gerade ein Titel, der im Buchhandel als sexy gilt. Dabei gibt es kaum einen neueren Roman, der mit solch verstörender Akribie und Selbstverständlichkeit sexuelle Aktivitäten beschreiben würde. Das Erstaunlichste an diesem Buch ist die Kühnheit, man könnte auch sagen Unverfrorenheit, mit der ein junger Autor seine Figuren in den Erzählmarathon schickt, mit der er ihre Lebensbahnen berechnet, arrangiert und kreuzt, mit der er in einem ekstatischen Finale das Irreale triumphieren lässt. Pedro Almodovar meets Kafka - oder doch eher Musil?

Hochfrequente Sprache

Dass Die Frequenzen ein atemberaubendes Buch geworden ist (und eines, das sich dem Leser auf den Magen schlägt), verdankt sich nicht allein der klugen Konstruktion und der inneren Dynamik der Protagonisten, sondern vor allem seiner gewissermaßen hochfrequenten Sprache, die sich keinen Leerlauf erlaubt.

Am Beginn steht die Fahrt des jungen Walter Zmal zu seinen Eltern - etwas ist geschehen, angeblich eine "Frauengeschichte", wiewohl wir bald erfahren, dass Walter nach einigem Schwanken zwischen den Geschlechtern nun den Männern zuneigt. In "Das Ende" fiebert gleich darauf der Ich-Erzähler Alexander Kerfuchs seinem letzten Tag als Pfleger im Altersheim entgegen. "Das wirkliche Ende" folgt dann am Ende von Teil I (der drei Teile) auf Seite 354; hier wird analytisch entblättert, was Walter zur Flucht in den Schoß der ungeliebten Familie bewog: Es gab eine Tote. Leider kann man im realen Geschehen nicht vor- und zurückblättern, der "Lauf der Dinge" ist "immer linear, grausam und unerbittlich". Walters Vater, der berühmte Architekt Zmal, will in seinem Sprössling ("Mir fällt nichts ein") unbedingt einen Genial-Kreativen sehen, wenigstens Schauspieler soll er werden.

Als die Therapeutin Valerie den jungen Mann, anstatt ihn zu behandeln, als verdeckten Mitspieler in ihre Klientengruppe engagierte, erlebte Walter das als Erlösung: "Wie schön, dachte er, wie selten und kostbar die Einsicht, dass man nichts Besonderes ist und sich alles bereits durch eine kleine Parallelverschiebung der Verhältnisse lösen lässt."

Valerie ist gerade auf das heftigste mit Alexander liiert, Walters verschollenem Freund aus Kindertagen. Weil man einander einmal übersieht, passiert die Wiederbegegnung spät. Glücklich war auch Alexanders Kindheit nicht: "Ein Gespräch, das plötzlich verstummt, weil ein ungebetener Gast den Raum betreten hat ... So ungefähr muss man sich meine Geburt vorstellen."

Frequenzen des Bewusstseins

Auch Alexander schleppt eine zentnerschwere Vaterfigur mit sich herum: Georg Kerfuchs, Doktor der Physik und Gymnasialprofessor, ein souveräner Kauz, der an den in die Plafond-Ecken entschwindenden Vater in Bruno Schulz' Zimtläden erinnert, verließ Frau und Sohn einst bei einer Autopanne im Schnee, fuhr mit dem flottgemachten Fahrzeug auf und davon. Zuvor hatte sich die Bruchstelle seiner Existenz als Riss in der Kellerwand gezeigt, der sich seinen Berechnungen hartnäckig verweigerte.

Fluchten gibt es einige: Der junge Ehemann flüchtet vor der Wochenbettdepression seiner Frau, das Hündchen Uljana hat Panikattacken. Ein kleines Selbstporträt hat der Autor im Hochzeitsbild am Schluss versteckt, das die Heimkehr des verlorenen Vaters inszeniert: Der bebrillte junge Mann, der so lange über das "uralte Elementarproblem von Vater und Sohn" nachgedacht hatte, "bis er schließlich einen quirlig-verzweifelten Roman darüber geschrieben hatte", könnte der Verfasser von Clemens J. Setzs Erstling Söhne und Planeten gewesen sein.

Ja, die Setz'schen Helden wissen, dass die Welt "aus Geräuschen zwischen 20 und 20.000 Hertz" existiert, aber was nützt ihnen das? Die Frequenzen des Bewusstseins (die Rede ist von den Sirenen der Rettung, den Tonlagen des mütterlichen Sprechens und vor allem von Tinnitus) bleiben unergründlich. Wie die Sonnenfinsternis des Jahres 1999, deren Schilderung einen der Höhepunkte des Buches darstellt, oder das Paradoxon des Erwachens aus dem Wachkoma. Die Dialoge sind meisterlich, von schneidender Schärfe, aber auch Komik. Setz überzeugt mit Sätzen, die aus dem Textganzen leuchten, auf eine unangestrengte Weise bildhaft und prägnant: "Sein Gesichtsausdruck war so ernsthaft, dass er fast darauf ausglitt und in ein unsinniges Gelächter ausbrach." Ebenso physiologisch unmöglich: "Meine Mutter kam zu mir ins Zimmer, angelockt durch das Geräusch meiner blinzelnden Augen." Über Walter, der mit dem Rad an einer Kreuzung balanciert: "Seine Füße kauten auf den Pedalen herum." Über ein Ehepaar: "Er gehörte ebenso wenig zu ihrem Leben und seinen Notwendigkeiten wie ein zwischen zwei Buchseiten zerquetschtes Insekt zum Symbolvorrat des Textes."

 

Einmal möchte Zmal senior mit Kerfuchs senior über die Idee der Weltmaschine sprechen, in der alles mit allem mechanisch und zugleich mirakulös verbunden ist. Alexander erscheint sie als "Vision meiner eigenen Zukunft", offensichtlich ist sie auch ein Modell dieses Schreibens, in dem Verspieltheit und Stringenz einander die Waage halten. Am Ende steht der "geradezu unendliche Verkehr", mit dem Kafkas Urteil aufhört, doch hier hält er inne, deutet trotz allem einen möglichen Raum zum Leben an.  (Von Daniela Strigl/ Album, DER STANDARD/Printausgabe, 7./8. März 2009)