Foto: Thomas Rottenberg

Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte
von Thomas Rottenberg

Es war neulich. Da beschlich mich wieder einmal das Gefühl, dass in meinem emotionalen Rüstzeug etwas fehlt. Etwas Wichtiges. Und das Manko, erkannte ich, dürfte wirklich gewaltig sein. Schließlich kann ich - trotz aller selbst und von anderen auferlegten Versuchen - nicht einmal in Spurenelementen nachvollziehen, wieso das, was andere Menschen beseelt anfeuert und zu allerlei Aktivitäten treibt, bei mir so vollkommen nicht da ist.

Manchmal frage ich mich dann, ob ich nicht vielleicht doch etwas versäume. Schließlich sehe ich ja sogar in den Augen von Menschen, die ich in jeder Hinsicht ernst nehme, dieses seltsame Glimmen, wenn die Heimat Thema wird. Die regionale. Manche Chefs und viele Verwandte, etliche Freunde und ein Haufen Businessbekannte sind da ganz gleich: Sobald die Rede auf den Flecken Land kommt, von dem sie nach der Schule gar nicht rasch genug wegziehen konnten, ist es mit Distanz, Reflexion oder Selbstironie aus und vorbei. Und zwar so richtig

Ländermatch

Früher, vor Ewigkeiten, versuchten die Kollegen noch so, als wäre es ein Scherz: Vorarlberg gegen Oberösterreich wurde bei der Stadtzeitung zwar mit einem Lächeln, aber doch mit einer gewissen Inbrunst gespielt. Und ganz unverkrampft war das Lächeln nicht. Wir paar "echten" Wiener standen da meist ziemlich planlos dazwischen: Hernals versus Favoriten war für uns nie wirklich spürbar. Das Naserümpfen über zugereiste Dorfbewohner oder das Land (für den Wiener ist das mangels benachbarter Alternativen ja meist Niederösterreich) an sich bezog sich in der Regel eher auf ein damit assoziiertes Mindsetting - und das konnten durchaus auch Städter aufweisen.

Dann aber lernte ich: Die Liebe zu Vorarlberg oder zu Oberösterreich ist gar nichts - sobald man auf Steirer trifft. Die Steiermark ist nämlich der Nabel der Welt. Und während die meisten Kärntner außerhalb ihrer Heimat doch einen leicht entschuldigend-relativierenden Nebensatz oder Augenaufschlag dazulegen (müssen), sind patriotische Steirer von diesem zwang zur Relativierung befreit. Schon der Vergleich mit dem emotionalen Outfit von Kärntnern wird als Beweis der - im besten Falle - Unbedarftheit des Infragestellers gewertet.

Ausgeflaggt

Dass Tiroler, Salzburger und Burgenländer in dieser Aufzählung nicht vorkommen, hat aber einen anderen Grund: Es war eine steirische Flagge, die mir neulich entgegenwehte. Unvermutet - und ohne Anlass: Oben, auf einer Dachterasse mitten in Wien knatterte sie fröhlich im Wind. Kein kleines Kinderhand-Volksfest-Fahnderl, sondern eine echte Flagge. An einem richtigen, allem Anschein nach eigens dafür aufgestellten Pfosten.

Selbstbewusst und fröhlich wehte sie vor sich hin. Auch ohne (sport)kalenderbedingte Rechtfertigung. Zumindest war mir keine bekannt.

Von unten, von der Haltestelle aus, war sie kaum zu übersehen. Auch, weil es sonst in der Region so ganz an Fahnen mangelt. Das Haus beherbergt nichts regional-verwurzeltes (die Pizzeria im Erdgeschoss ausgenommen). Und weder werden auf umliegenden Terrassen andere Bundesländer per Flagge verehrt, noch sind auf Balkonen oder in Fenstern Relikte des nationalen Taumels rund um die Euro zu sehen: Die Steirerflagge ist ein regionales Standallone. Ein wehender Monolith aus Stoff. Ein Bekenntnis zur "Hoamat" des Dachbewohners.

Ottakring?

Wir standen unten und staunten. Dann seufzte S. Sie stammt aus Ottakring. Ich aus Favoriten. Ob ich denn wisse, ob es eine Ottakringer-Fahne gäbe (und ich möge mir die naheliegenden Witze jetzt bitte sonst wohin stecken). Ich verneinte. Und versuchte zu trösten: Auch Favoriten habe - soweit ich mich erinnern könne - kein eigenes Banner. Irgendwann, in der Volksschule, hatte uns die Lehrerin allerdings ein Wappen gezeigt. Das hatte schon damals keinen interessiert. Doch jetzt finden S. und ich das fast schade. Denn vielleicht könnte das knattern von Ottakrings Flagge über der Leopoldstadt oder das hissen der Fahne von Favoriten über den Giebeln Wiedens in uns endlich jenen regionalspezifischen Patriotismus triggern, das unseren Stadtpersönlichkeiten bisher fehlte. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 9. März 2009)