Wien - Mit Johann Sebastian Bachs "Matthäuspassion" haben sich der renommierte belgische Choreograf Alain Platel, seine Company Les Ballets C de la B und der Musiker Fabrizio Cassol beschäftigt. Herausgekommen ist dabei die Großproduktion "pitié!", die am Wochenende in der großen Halle E des Tanzquartier Wien zu sehen war. Bach ist eine jener Herausforderungen, denen sich viele Choreografen der jüngeren und jüngsten Tanzgeschichte stellen.
Die meisten scheitern daran, so auch Alain Platel, der schon vor elf Jahren mit seinem Stück "Iets op Bach" eine seinerzeit vielbeklatschte Zirkusnummer über den Barockkomponisten abgeliefert hatte. Nicht, dass Platel und seine Tänzer nebst der Musikgruppe Aka Moon sich nicht angestrengt hätten. Viel Arbeit steckt in "pitié!", und die Darsteller transportieren einige akrobatische Leistungen und hinreißende Momente expressiver Intensität.
Dennoch verströmt die große Bühne über zwei Stunden hin einen bei aller Betriebsamkeit der Beteiligten paradox anmutenden Leerlauf. Die Gründe für dieses Scheitern liegen in der akkumulativen Dramaturgie des Stücks, in dem Bilder und Assoziationen ohne funktionierende Methode aneinandergereiht werden, und darin, dass die sich Trägeridee für "pitié!" nicht kommuniziert.
Soap-Opera-Motive
Es geht um eine Auseinandersetzung mit dem Mitleiden, dem Erbarmen und der Figur des sich Opferns. Um ein über die Massenkultur hoch aufgeladenes Motiv also, das sich gerade über den Tanz nur schwer vermitteln lässt. Darüber hinaus ist es ein Motiv, das jede Soap-Opera strapaziert und Hollywood-Rührstücke kassenbewusst aus sich würgen.
Platels Entscheidung, seine Show vor dem Hintergrund einer ambivalenten Kirchenpolitik abzuspulen, die sich zwischen Inquisition und den Holocaustleugner Bischof Richard Williamson bettet und ihren Begriff des Erbarmens aktuell in Brasilien an dem Ärzte-Exkommunizierer Erzbischof José Cardoso Sobrinho erprobt, erweist sich als problematisch.
Noch problematischer erscheint eine Szene, in der einige Performer die Hosen herunterlassen und mit bloßem Hinterteil in die Hocke gehen, wie um sich zu erleichtern. Derlei altbackene "Kritik" ist all zu leicht verdaulich geworden und wird durch die feierliche Musik diplomatisch gedämpft. Was bleibt, ist ein hohler Gag. Mit Seilkunststückchen und Saltos, Muskelspielen, Showeinlagen und bedeutungsschwangeren Aussagen schwindelt sich Platel durch seine Arbeit - im Bestreben, mit Oberflächen strapazierender Poesie eine humanistische Botschaft leichtfüßig über die Rampe zu bringen.
In "pitié!" mit seiner konservativen Ästhetik funktioniert gerade das nicht. Das Publikum in der vollen Halle E applaudierte gerne den hübschen Ingredienzien, die Bewegtheit am Inhalt aber blieb aus. (Helmut Ploebst / DER STANDARD, Printausgabe, 9.3.2009)