Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, ehemaliger Leiter der Forschungsstelle für Humanethologie der Max-Planck-Gesellschaft in Seewiesen, versteht das Phänomen Gähnen als synchronisiertes Verhaltensmuster, das dem Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe dient. Gähnt der Leitwolf, dann gähnt das gesamte Rudel mit. Würde dagegen nur ein Einzeltier gähnen und sich anschließend schlafen legen, dann wäre der Zusammenhalt in der Gruppe gefährdet. Stimmungsübertragung als Überlebensstrategie, funktioniert bei Tier und Mensch gleichermaßen.
Nicht nur Müdigkeit lässt die Gähnfrequenz steigen, sondern jede deutliche Veränderung der bestehenden Aufmerksamkeit. In der Stunde nach dem morgendlichen Erwachen und in Phasen erhöhter Anspannung und Konzentration gähnt der Mensch deshalb ebenfalls häufig.
Eiskalter Muntermacher
Andrew und Gordon G. Gallup von der State University of New York in Albany betrachten das Gähnen primär als „Muntermacher", das auch synchron in der Gruppe wunderbar funktioniert. Ihre Theorie: Gähnen kühlt das Gehirn und erhöht dadurch die Wachsamkeit. Den Beweis erbrachten die Wissenschaftler mit einem kalten Gegenstand, den Probanden an ihre Stirn gedrückt hielten. Die „Gähninfektion" wurde dadurch verhindert, die Denkleistungen der Studienteilnehmer optimiert.
Mag sein, dass Gähnen tatsächlich ein Zeichen von gesteigerter Aufmerksamkeit ist. Die Gesellschaft interpretiert es aber beharrlich als unhöfliche Geste. Der Versuch des Gähnenden sich auf einen bestehenden Sauerstoffmangel hinauszureden ist unzulässig, wie der amerikanische Gähnexperte Robert R. Provine von der Universität in Maryland bereits vor drei Jahrzehnten bewies. Er ließ Studenten Luft mit unterschiedlichem Sauerstoffanteil atmen. Die Gähnrate blieb dabei erstaunlich konstant.
Einfühlsamer Gähner
Gähnen ist kein Reflex im eigentlichen Sinn, dennoch lässt es sich kaum unterdrücken. Einfühlsame Menschen sind dem Phänomen in besonderem Masse ausgeliefert. Steven Platek von der Drexel Universität in Philadelphia (Pennsylvania) hat es 2003 in seiner Studie „Contagious yawning: the role of self-awareness and mental state attribution" anschaulich beschrieben. Die Beobachtung autistischer Kinder unterstützt seine These. Anders als normale Kinder, gähnen autistische Kinder beim Betrachten von Videos gähnender Menschen nämlich nicht mit.
Nachahmung mit Spiegelneuronen
Wahrscheinlich bilden Spiegelneuronen die Grundlage für Plateks empathische Theorie. Giacomo Rozzilatti hat diese Nervenzellen Mitte der 90er Jahre an der Universität Palma entdeckt. Ihre Besonderheit: Spiegelneuronen werden nicht erst beim Ausführen einer bestimmten Handlung aktiv, sondern sind es bereits, wenn man jemandem anderen bei einer Handlung nur zusieht. Die Beobachtung wird sozusagen im Geiste vollzogen und imitiert. Experten sprechen von Resonanzphänomenen.
Spiegelneuronen sind ein spezifischer Teil der Großhirnrinde und spielen was die Ansteckung des Gähnens betrifft eine entscheidende Rolle. Jedoch ist mittlerweile auch klar, dass der Hirnstamm und verschiedene Neurotransmitter ebenfalls an dem komplexen Ereignis Gähnen beteiligt sind. Komplett gelähmte Menschen erbringen dafür den besten Beweis. Völlig bewegungslos sind auch sie in der Lage zu Gähnen, inklusive - und das ist erstaunlich - dem häufig damit verbundenen Strecken der Gliedmaßen.
Hinweis auf hirnorganische Erkrankungen
Eines scheint unbestritten: Gähnen ist zwar ansteckend, der Gesundheit abträglich ist es im Normalfall aber nicht. Warum sich diese Frage trotzdem ins Gesundheitsressort verirrt hat? Weil in einigen wenigen Fällen, Gähnen auch Hinweis für eine Erkrankung sein kann. Bei Epilepsie und Multipler Sklerose beispielsweise, ist neben verschiedenen anderen Symptomen auch exzessives Gähnen beschrieben. Im Opiat-Entzug und bei der Einnahme verschiedener Psychopharmaka wird ebenfalls häufig und kräftig gegähnt. (Regina Philipp, derStandard.at, 19.03.2009)