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Trauer und Fassungslosigkeit in Winnenden am Tag danach: Schüler und Angehörige weinen und gedenken ihrer getöteten Mitschüler und Lehrerinnen vor der Albertville-Realschule.

Foto: Alex Grimm/Getty Images

Langsam geht Aylen mit ihren gelben Rosen auf die Albertville-Realschule in Winnenden zu. Ihre beiden Freundinnen haben sich fest untergehakt. Gemeinsam legen sie die Blumen nieder und starren stumm auf die hunderten Kerzen, Blumen, Teddybären und Gedenkzettel. „Ich war dabei, und ich hatte solches Glück. Der Typ mordete in der Klasse links neben mir und rechts neben mir", sagt die 13-Jährige aus der 7C.

Am Mittwochvormittag, als der 17-jährige Tim K. in seine ehemalige Schule stürmte, dachte Aylen zunächst, Handwerker seien im Haus. „Da war so ein Krach plötzlich, dass das Schüsse sind, darauf wären wir im ganzen Leben nicht gekommen", sagt sie. Dann ging alles ganz schnell, erinnert sich Aylen: „Die Tür flog auf, und andere Schüler flüchteten in unsere Klasse. Da schrie unsere Lehrerin auch schon: ‚Runter, runter‘". Aylen warf sich auf den Boden, zückte das Handy und rief weinend ihre Mutter an. Lange konnte sie nicht sprechen, dann wurden sie und die anderen schon hinaus gezerrt von der Polizei und in eine nahe gelegene Schwimmhalle gebracht.

"Flüchtig gekannt"

„Wir leben noch", sagt ihre Freundin Julia, und schon steigen dem Mädchen wieder Tränen in die Augen. Da muss auch Serkan schlucken, ein 16-jähriger Schüler aus der nahegelegenen Geschwister-Scholl-Schule. Cool möchte er aussehen, mit seinen gegelten Haaren und dem Ohrring. Aber auch er ist bleich und wischt sich über die Augen. „Ich haben den Tim flüchtig gekannt, bin mit ihm öfter im Bus gefahren, der war ganz unauffällig", meint er.

Und: „So ein Wahnsinn ist das hier." Wahnsinn - das ist auch am Tag nach dem Amoklauf, bei dem 16 Menschen starben, das am meisten gebrauchte Wort in Winnenden. Während das Meer der Blumen vor der Schule wächst, gibt die Polizei neue Einzelheiten bekannt. Tim K. war demnach ein unauffälliger, ehemaliger Schüler der Albertville-Schule. Er machte gerade eine kaufmännische Ausbildung, hatte erste zarte Kontakte zu Mädchen. Im Kinderzimmer hortete er Pornobilder, Soft-Guns und Gewaltspiele.

Regelmäßig war er auch im Schützenverein des Vaters zu Gast. Dieser hatte 14 von seinen Waffen laut Polizei ordnungsgemäß verstaut, eine allerdings nicht.

Die fand der Sohn im Schlafzimmer. Den achtstelligen Code für die Munition konnte er knacken, der Vater hatte 4800 Schuss im Schrank. Und Tim K., der wegen Depressionen in Behandlung war, die Therapie aber abbrach, soll die Tat in einem Internetchat angekündigt haben: „Scheiße ... es reicht mir, ich habe dieses Lotterleben satt. Immer dasselbe, alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potenzial. Ich meine es ernst, Bernd, ich habe Waffen hier, und ich werde morgen früh an meine frühere Schule gehen und mal so richtig gepflegt grillen.

Debatten über Gewalt

Vielleicht komme ich ja auch davon, haltet die Ohren offen, Bernd. Ihr werdet morgen von mir hören. Merkt euch nur den Namen des Orts: Winnenden. Und jetzt keine Meldung an die Polizei, keine Angst, ich trolle nur." Diese Version, vom Innenminister in einer Pressekonferenz präsentiert, schockierte die Öffentlichkeit, feuerte Debatten über Gewalt im Internet an. Am Abend zog die Polizei zurück: Der Interneteintrag sei nicht von Tim K.‘s Computer gemacht worden, sondern vermutlich eine Fälschung.

Auf „YouTube" tauchte zuvor ein Handy-Video von den letzten Sekunden Tim K.s auf, die ihn ziellos vor dem Autohaus auf und ab gehend zeigen. Plötzlich bricht er zusammen - was Zweifel an der Selbstmord-Version der Polizei aufkommen ließ.

„Wie leben die Eltern nur damit weiter?", fragt sich Theo Xanthopoulos in Winnenden, und lässt offen, ob er die Eltern der getöteten Schüler oder diejenigen des Täters meint. Er ist Taxifahrer und hat den Vater einer getöteten Schülerin zur Schule gefahren. Geredet haben sie kein Wort: „Was soll man da noch sagen." (Birgit Baumann aus Winnenden, DER STANDARD - Printausgabe, 13. März 2009)