Unabweislichkeit des Alters: Dubravka Ugrešić.

Foto: Jerry Bauer

Gleich vorweg: Kaum ein anderes Buch in unseren Dekaden hat witziger, klüger und berührender die Unabweislichkeit des Alters behandelt als das neue Buch der kroatischen Schriftstellerin Dubravka Ugrešić, die aus politischen Gründen seit 1993 nicht mehr im neuen Staat Kroatien leben und lehren kann. Die Gründe dieser Exilierung klingen in einigen Nebenbemerkungen im zweiten, märchenhaft gewirkten Teil ihrer einzigartigen Prosakomposition an; zuerst aber berichtet eine Ich-Erzählerin von den Listen, mit denen ihre achtzigjährige Mutter angesichts des körperlichen und geistigen Zerfalls "Normalität" und "Ordnung" aufrechtzuerhalten sucht. Die zunehmenden Orientierungs- und Sprachdefekte werden mit der Präzision neurologischer Protokolle beschrieben, sind zugleich aber eingebettet im Konflikt zwischen der nach Dominanz strebenden Mutter und der im Ausland lebenden Tochter, die sich aus der Rolle eines mütterlichen Lebenswerkzeuges nicht befreien kann.

So muss sie nach Bulgarien reisen, um der Mutter neue Fotos aus deren Herkunftsstadt zu liefern. Eine junge bulgarische Folklorekundlerin, in Zagreb fallweise Betreuerin der Mutter, erweist sich dabei als zudringlich verehrende Reisebegleiterin. Die Frage, ob sie einen Freund habe, beantwortet diese auf verblüffende Weise mit dem russischen Märchen von der Zar-Jungfrau und dem Kaufmannssohn Iwan.

Die 88-jährige Frauenärztin Pupa, langjährige Freundin und Geburtshelferin der Mutter, im familiären Jargon "alte Hexe" genannt, überbrückt ihre Wartezeit auf den Tod, indem sie mit der 80-jährigen Englischlehrerin Kukla und der um zehn Jahre jüngeren pensionierten Anatomiezeichnerin Beba in einen tschechischen Kurort reist. Dort, im zweiten Teil des Buches, steigen sie im Grandhotel ab, Pupa als paradoxer Kontrapunkt zu den in dessen Wellness-Center angebotenen Versprechungen der Lebensverlängerung, wo Beba Aussöhnung mit ihrem zerfließenden Körper suchen soll.

Es ist hier nicht möglich, auf das von Ugrešić entzündete Feuerwerk von Einfällen und das zahlreiche Personal (darunter ein unter Dauererektion als Kriegsfolge leidender bosnischer Masseur und ein amerikanischer Produzent von Gesundheitselixieren) einzugehen. Nur so viel sei verraten: Das Ei, in dem das liebende Herz des Mädchens im russischen Märchen zu finden ist, entpuppt sich als verschachteltes Leitmotiv des Buches, die am 4. Tag des Kuraufenthaltes verstorbene Pupa kehrt, wegen sperriger Totenstarre in ein hölzernes russisches Riesenei verfrachtet, fliegend nach Hause zurück.

Feuerwerk von Einfällen

Überdrehte Muster des Kolportageromans, romantische Liebesszenen, Glücksspielgewinne, kursorische Lebensläufe, mit Bosheiten gewürzte soziale und anthropologische Beobachtungen, unglaubliche Schicksalsverwicklungen inklusive chinesischer Adoptivenkelin und posthum verfasster Romane, Kampfstrategien gegen die wachsende körperliche Desintegration etc. ergeben eine wahnwitzige Abfolge von Motiven und Erzählfäden, deren Verflechtungen vorerst nur zu ahnen ist. Eingestreute kommentierende Reime à la "Und wir? Wir ziehen weiter. Der Mensch stets nach dem Ruhme trachtet, die Erzählung auf den roten Faden achtet" heizen das Lesevergnügen noch weiter an.

Im dritten Teil steckt die eigentliche gedankliche Pointe des Buches, indem seine bis dahin maskierten Motive schrittweise enthüllt werden. Die kleine Bulgarin taucht nun als Expertin der slawischen Volkskunde an einer ostfinnischen Universität auf und unterzieht auf Bitte des Verlegers das vorliegende Romanmanuskript der Autorin - nichts anderes als die ersten zwei Teile des Buches - einer mythologischen Analyse. Das ist nicht nur sehr lustig, sondern steckt voller Kenntnisse von der archetypischen Verfassung menschlichen Handelns und Denkens, die als Übersetzung unbewusster Inhalte in der Bildlichkeit von Volksmärchen, in der Präsenz des Rohen der Volksbräuche sichtbar wird.

Alte Hexen

Die individuellen Lebensgeschichten erweisen sich somit im Sud mythisch geprägter Welterkenntnis ausgekocht, die Attribute der in der slawischen Sagenwelt zugleich als wohltätig und bedrohlich figurierenden Baba Jaga erhellen die Eigenschaften der Romanfiguren. Ein volkskundliches Glossar "Baba Jaga für Anfänger" bildet dazu die faktenkundige Basis. Damit aber setzt die Autorin ein Karussell von je unsicheren, widersprüchlichen und dennoch zutreffenden Aussagen in eine schwindelerregende Fahrt, in dem "reale" und "sagenhafte" Personen gemeinsam durch die Welt gedreht werden. Das listig eingeschleuste polynesische Sprichwort "Nur alte Hexen legen goldene Eier" bildet dabei so etwas wie einen tröstlichen Halt, zumal, wie wir nun belehrt sind, das Ei als universelles Symbol der Lebenserneuerung Alter und Tod entgegengesetzt ist. (Kurt Neumann, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 14./15.03.2009)