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Alice Schwarzers Erklärungsmodell für die Gewalttat: "Motiv Frauenhass". Ihre Forderung: eine Erziehung zu mehr Mitleidensfähigkeit und Menschlichkeit statt Männlichkeit

Foto: AP/Eckehard Schulz

Im Emma-Online-Forum begann die Debatte bereits wenige Stunden nach dem Massaker. "Warum sind Amokläufer fast immer männlich?", fragt die Unternehmerin Susanne Weimann. Und Schauspieler Gerd Buurmann aus Köln klagt: "Mich macht es fuchsteufelswild, wenn ich höre, der Amokläufer hätte wahllos um sich geschossen. Er hat gezielt in die Köpfe von Mädchen geschossen. Das ist alles, aber nicht wahllos. Wieso wird das nicht deutlich gesagt?"

Die Polizei sagte es auf ihrer ersten Pressekonferenz am 11. März noch unmissverständlich: "Auffällig ist, dass es sich bei den Opfern vor allem um Mädchen handelte." In der Tat: Von insgesamt 19 Opfern in der Schule - von denen zwölf tot sind und sieben verletzt - sind 18 weiblich, also 95 Prozent.

Der Amokläufer war keineswegs wahllos, er hat seine Opfer durch gezielte Kopfschüsse regelrecht hingerichtet. Tim K. erschoss drei Lehrerinnen und acht Schülerinnen, sieben weitere überlebten. Nur einer der Toten in der Schule war männlich: ein Junge albanischer Herkunft. Erst außerhalb der Schule hat er dann auf der Flucht wahllos um sich geballert und dabei auch noch drei zufällig anwesende Männer getötet.

Damit ist das Drama in der schwäbischen Kleinstadt Winnenden das erste Massaker mit dem Motiv Frauenhass in Deutschland - und das zweite weltweit in einem Nicht-Kriegsland.

Mediale Scheuklappen

Doch welche Schlüsse werden daraus gezogen? Die ARD-Nachrichten sprachen am zweiten Tag von "drei Lehrern und neun Schülern", die getötet worden seien. Und die politischen TV-Magazine problematisierten am Abend danach zwar den privaten Waffenbesitz oder den jugendlichen Internetkonsum. Zu Recht. Doch dieser zentralste, offensichtlichste Aspekt - der Frauenhass - kam mit keinem Wort mehr vor.

Am dritten Tag erwähnten zum Beispiel FAZ und SZ in ihren ausführlichen Erörterungen des Dramas zwar in einem Satz, dass Tim K. gezielt auf Mädchen geschossen und einen "Hass auf Frauen" (SZ) hatte. Und welche Schlüsse wurden daraus gezogen? Keine.

Der 17-Jährige kommt aus einem wohlsituierten Elternhaus, der Vater ist Unternehmer. Tim K. galt als verklemmt und war ein schlechter Schüler, hatte im vergangenen Jahr jedoch den Realschulabschluss geschafft und danach eine Lehre angetreten. Er soll sich früher von einer Lehrerin "gemobbt" gefühlt haben: "Er hat sie regelrecht gehasst, wie Frauen allgemein", so ein Nachbar der Familie zu Bild.

Am Tag darauf, am 13. März, interviewt Bild dazu Dieter Lenzen, den Präsidenten der Freien Universität Berlin. Der Erziehungswissenschaftler erklärte: "Die Jungen sind die Verlierer im deutschen Bildungssystem."

Und er wusste auch schon, warum: "Vor allem die Tatsache, dass Jungen schon in der Grundschule meistens von Lehrerinnen unterrichtet werden, verhindert, dass sie eine männliche Identität ausbilden können."

Eine "männliche Identität" - was ist das? Wohin in der Tat die Verunsicherung eines Mannes führen kann, das hatte am 6. Dezember 1989 in Kanada Marc Lepine gezeigt. Der 25-Jährige stürmte einen Unterrichtsraum der Montrealer Ecole Polytechnique mit dem Ruf: "Ich will die Frauen!" Sodann erschoss er 14 Ingenieur-Studentinnen und schrie: "Ihr seid Feministinnenpack. Ich hasse Feministinnen!" Am Schluss tötete er sich selbst.

Der in der Tat zwischen den Identitäten, zwischen verschiedenen Männlichkeitsmodellen zerrissene Sohn einer Kanadierin und eines Algeriers war ein arbeitsloser Elektriker, der nicht an der Ingenieursschule angenommen worden war.

Auch der Jugendliche Tim K. scheint in der Tat als Mann verunsichert gewesen zu sein. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass es ihm an männlichen Vorbildern mangelte. Im Gegenteil, sein Vater inszeniert sich offensichtlich als "he-man": Er gilt als "Waffennarr", ist Mitglied des örtlichen Schützenvereins, besitzt insgesamt 15 Waffen, und in seinem Waffenschrank fand die Polizei 4600 (!) Schusspatronen.

Es ist keineswegs eine Überraschung, dass der unauffällige Tim K. Porno- und Gewaltvideos konsumierte und täglich Stunden im Internet surfte. Seit er das tat, soll er sich verändert haben. Vielleicht sollte also statt über seine früheren Lehrerinnen eher über sein heutiges Parallelleben in einer virtuellen Welt voller gewalttätiger Helden nachgedacht werden?

Schon im Frühling 2007 schlug der Münchner Neuropsychologe Prof. Henner Ertel Alarm. Sein Institut für rationelle Psychologie macht seit 30 Jahren Langzeitstudien zu den Auswirkungen von Pornografie. Bei der Auswertung der Daten aus den letzten 20 Jahren stellten die WissenschaftlerInnen "eine dramatische Entwicklung in den letzten fünf Jahren" fest: "Was da auf unsere Gesellschaft zukommt, ist das Grauen."

Die Psychologen registrierten veränderte Verhaltensweisen - "Gewalt ist heute ein legitimes Mittel, Ansprüche durchzusetzen" - und die Neurologen Veränderungen im Gehirn: "Das Gehirn passt seine Verarbeitungsstrategien an und schützt sich gegen die Flut von Gewalt und Pornografie durch Abstumpfung." Prof. Ertel: "Emotionale Intelligenz und Empathiefähigkeit haben bei den Jugendlichen enorm abgenommen."

Wandelnde Zeitbomben
In quasi allen Fällen von Männergewalt in Friedenszeiten spielt der Männlichkeitswahn - also die verunsicherte Männlichkeit, verbunden mit einem Größenwahn - eine zentrale Rolle. Die männlichen Allmachts- und Todesfantasien sind das Dynamit. Da kann eine - vermeintliche - Kränkung durch eine Frau (wie zum Beispiel eine Zurückweisung) leicht zum auslösenden Funken werden.

Diese Jungen sind wandelnde Zeitbomben. Und es ist zu befürchten, dass Tim K. aus dem Eigenheim in der idyllischen schwäbischen Kleinstadt nicht der letzte Amokläufer war. Wie aber können potenzielle Opfer in Zukunft geschützt werden, vor allem: Wie kann verhindert werden, dass diese "Verlierer" zu Verbrechern werden? Ganz sicher nicht durch ein Mehr an Männlichkeit, wie Professor Lenzen es fordert, sondern nur durch das Gegenteil: durch ein Mehr an Menschlichkeit!

Auf der ersten Pressekonferenz nach der Tat erhob ein hilfloser Polizeichef die Forderung nach Einlass-Chips für Schulen. Er scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass das Böse nicht von draußen kommt. Es ist mitten unter uns. Es sind unsere eigenen Söhne, Nachbarn und Mitschüler, die zu Vergewaltigern und Mördern werden.

Wir können uns vor diesen ausrastenden Jungen mitten unter uns nicht schützen. Wir können sie nur vor sich selbst schützen. Das Rezept dazu heißt: aufmerksame, zugewandte Eltern und Lehrer/innen, mehr Psychologen und Sozialarbeiter in Schulen und Jugendhäusern - sowie eine Erziehung nicht etwa zum Selbstmitleid und zur "Männlichkeit", sondern zur Mitleidensfähigkeit und Menschlichkeit.

Doch vor dem ersten Schritt zur Änderung der Verhältnisse muss die Bereitschaft stehen, die Wurzeln des Übels zu erkennen. Und sie endlich auch zu benennen! (Alice Schwarzer, DER STANDARD Printausgabe 16.3.2009)