Hunderte Journalisten filmen und
interviewen einander - mangels anderer Motive.

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Live-Einstiege zur Prime-Time vor dem Gericht

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Nackte Babypuppen, teils mit roter Farbe bespritzt, kugeln auf dem Asphalt herum. Richard Wagners "Götterdämmerung" schallt aus den Lautsprechern, wird regelmäßig von der Stimme eines Sprechers mit den Worten "Yes, we can" übertönt. Aktivisten der Kinderschutz-Gruppe Resistance for Peace demonstrieren vor dem Landesgericht St. Pölten. Sie werfen Österreichs Regierung in Bausch und Bogen vor, Pädophile zu schützen. Währenddessen wartet Josef F. auf seinen ersten Auftritt vor Gericht. Und 95 akkreditierte Journalisten auf ihren Einlass. Die Zahl jener, die nicht ins Gerichtsgebäude dürfen, beträgt ein Vielfaches. Aktivisten verschiedener Gruppierungen, darunter auch Fahnen schwenkende Rechtsextreme, nützen die hohe mediale Aufmerksamkeit rund um den "Jahrhundertprozess", halten Plakate für Kinderschutz in die Kameras. Unter die Aktivisten hat sich auch Schauspieler Hubsi Kramar gemischt.

25 Polizeibeamte achten darauf, dass in dem Medienauflauf alles ordnungsgemäß abläuft. "Ich hoffe, dass es bis Freitag so ruhig bleibt", sagt Polizeidirektor Johann Schadwasser. Nicht die Ruhe, sondern das Getümmel hat Franz Deuschlinger in die Landeshauptstadt gelockt. Der 75-jährige Pensionist ist um 4.15 Uhr aufgestanden und aus dem Weinviertel in die Landeshauptstadt gefahren, weil er "einfach da dabei sein" wollte. Wie damals, bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags, sagt er. In den Gerichtssaal habe er gar nicht gewollt.

"Live" aus dem Pressezelt

Unter den Presseleuten sind dagegen viele, die gerne der öffentlichen Verlesung der Anklage beigewohnt hätten, aber aus Platzgründen keine Akkreditierung erhielten. Sie müssen sich mit einer kurzen TV-Übertragung aus dem Gerichtsgebäude in dem auf dem benachbarten Parkplatz aufgebauten Pressezelt zufriedengeben. Als Josef F. um halb zehn in den Saal geführt wird, ist es eng in dem provisorischen Medienzentrum, Reporter und Fotografen steigen auf Sessel, um einen Blick auf den Flachbildfernseher zu erhaschen. 20 TV-Kameraobjektive sind auf den Schirm gerichtet, Moderatoren berichten "live" aus dem Zelt. Als der Angeklagte mit blauer Mappe vor dem Gesicht in den Saal geführt wird, murmelt ein englischer Journalist: "Gib die Mappe weg, gib die verdammte Mappe weg." Enttäuscht sei er, sagt er später.

Manche der Journalisten kommen direkt aus Winnenden, wo sie vom Amoklauf eines 17-Jährigen berichtet haben. "Das Medieninteresse war vergleichbar groß", erzählt ein norwegischer Journalist einer Kollegin ins Mikro. Die Nachrichten aus dem Gerichtssaal sind spärlich, Presseleute interviewen einander. Kurz wird es unruhig auf dem Parkplatz, eine Traube an Fotografen und Kameraleuten umzingelt eine Verwandte des Angeklagten, die in einen TV-Wagen gelotst wird. "Wir haben einen Exklusiv-Vertrag bis Donnerstag mit der Dame", erklärt ein Redakteur neugierigen Kollegen. Rund ums Pressezelt parken etwa 20 Übertragungswagen, ein Bäcker versorgt mit Kaffee und Gebäck, gegenüber gibt es Zuckerwatte. Der Süßigkeiten-Stand irritiert: "Schaut aus wie auf einem Jahrmarkt", sagt ein Reporter. (Gudrun Springer/DER STANDARD-Printausgabe, 17.3.2009)