Weniger wäre manchmal mehr.

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Das russische Neujahr steht vor der Tür. Wenjamin Jasytschnik, ein Sankt Petersburger Ethnograf, der sich mit Vorliebe dem Verbleib der versunkenen Stadt "Vineta" und ihrem spurlosen Versinken in der Ostsee widmet, muss aus seiner Heimatstadt schmählich Reißaus nehmen.

Sein Stiefvater, in dessen "Ost-West-Transit GmbH" er für den Zwischenhandel mit Bologneserhündchen zuständig war, die man übrigens als "japanische Zwergschafe" in den auf Luxus erpichten Westen exportierte, ist tot: Er erlitt ein nicht ganz gewaltfreies Patriarchenschicksal. Doch gar nichts lebt aus eigenem Zutun in Oleg Jurjews neuem Roman, in dem ein Kühlschiff, benannt nach einem "zweifachen Helden der Sowjetunion", in die mit Graupelschauern verhängte Ostsee sticht. Ziel ist der "Westen": Hamburg vielleicht, wo man sich aus Anlass des Jahrtausendwechsels an einem Musical zu ergötzen hofft.

Aber auch Sankt Petersburg, schreibt Jurjew, der Satiriker, sei bloß ein mit Ketten angeleintes Luftschiff. Der in Frankfurt am Main lebende Autor markiert im Konzert der russischen Gegenwartsautoren am ehesten den Part des virtuosen Basstuba-Spielers: Er kapert ein Traumschiff, und er füllt es bis in die letzte Ritze an mit Erlebtem, Erdachtem - und mit zweifelsfrei (und oftmals ulkig) Zitiertem.

In den Plattenbauten an der Sankt Petersburger Peripherie muss jedenfalls eitel Schenkelschlagen herrschen: Jurjew gibt unter ausführlicher Würdigung der sowjetrussischen Folkore den Herzmanovsky-Orlando aus Karelien. Er strapaziert ausführlich den Geist jener nachholenden Moderne, die Russland mit dem unvermeidlichen Konsumgut der Handys beschenkt hat.

"Die russische Fracht" ist der perfekte postmoderne Roman: In ihm sitzt ein virtueller Geisterkapitän einsam auf seiner Kommandobrücke, um sowjetische Heldenlieder zu singen und jede Regung des "Helden", des dicken Wenjamin also, aus dem Off der Bord-Lautsprecher gemütvoll zu kommentieren. Sämtliche Landsmannschaften der alten SU feiern in dieser Prosa-Sause einen Auftritt an Deck; Trinker und U-Boot-Kapitäne geben sich ihr Stelldichein - Letztere dümpeln gar unter israelischer Flagge durch die unsichtbaren Wasserkanäle in unzugänglichen Landmassen, um auf dem See Genezareth triumphal wieder aufzutauchen.

Doch allzu oft dient das mit Rost imprägnierte Gerüst dieses leidlich amüsanten Romans auch nur zur Ausstellung liebenswürdiger Scherze: Eine auf See gesichtete Tarnkappenkorvette ähnelt dann einer "alten sowjetischen Kefir-Packung". Geschmuggelt werden in dieser gischtüberschäumten Dunkelzone des Weltmeeres "Gräberwachs in loser Schüttung", seltsame Kreuzungen aus Mardern und Frettchen, "rotes Quecksilber", "Enterleitern mit Magnetsaugstreifen".

Wenjamin, der gemütliche Seefahrerheld wider Willen, darf seine russischen Silvester im Beisein Peters des Großen dann doch in Petersburg feiern. Er dürfte sein Seeabenteuer aufgrund des zügellosen Genusses stark toxisch wirkender Getränke eher nur geträumt haben. Aber von Wenedikt Jerosejews genialen Trinker-Delirien trennt Jurjew das Spaßkalkül des allzu routinierten Roman-Bootsbauers. (Ronald Pohl, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.03.2009)