"Letztendlich brauchen wir Krisen auch, um etwas dazuzulernen" , sagt der Arzt und Psychotherapeut Claudius Stein.

STANDARD/Urban

STANDARD: Haben Sie selbst eine depressive Veranlagung?

Stein: Sagen wir einmal so: Es gibt solche Seiten, ja - wie vermutlich bei jedem Menschen. Praktisch jeder hat eine Veranlagung zu depressiven Reaktionen. Depressionen sind Angstreaktionen ähnlich. Natürlich muss man unterscheiden: Geht es um eine Depression als Krankheit oder um eine depressive Verstimmung. So eine depressive Verstimmung kann Tage, manchmal auch Wochen dauern. Solche Episoden haben aber durchaus auch eine sinnvolle Funktion.

STANDARD: Was soll an einer Depression positiv sein?

Stein: Jemand, der wirklich an einer depressiven Erkrankung leidet, wird dieser nichts Positives abgewinnen können. Eine kürzere depressive Episode hingegen kann die Funktion des Innehaltens haben. Die psychischen Funktionen, zum Teil auch die körperlichen Funktionen, werden herunterreguliert. Die Stimmung ist niedergedrückt. Die Gefühle sind gedämpft. Das wird als unangenehm empfunden, zum Teil braucht man das aber auch. Wenn man von Gefühlen überschwemmt wird, wie das in Krisen vorkommt, ist es manchmal notwendig, innezuhalten.

STANDARD: Ist das eine Art innerer Einkehr?

Stein: Das kann es sein. Innehalten, Pause machen, Abstand halten. Man kann individuelle Krisen nicht so einfach auf gesellschaftliche Krisen umlegen, aber es gibt schon Aspekte, die ähnlich sind. Krisen gehören zum Leben dazu. Krisen sind Belastungen, die wir als nicht alltäglich erleben, mit denen wir meist nicht rechnen.

STANDARD: Kann es sein, dass so eine gesellschaftliche Krise auch als individuelle Krise erlebt wird?

Stein: Absolut. Erstens natürlich durch die individuellen Auswirkungen. Man kann aber grundsätzlich sagen, dass große gesellschaftliche Krisen immer Auswirkungen auf das Individuum haben. Wenn viele Leute arbeitslos werden, gibt es eine Wechselwirkung. Da sind Individuen ganz praktisch betroffen. Es gibt aber auch eine andere Wechselwirkung: Gesellschaftliche Entwicklungen, die bedrohlich sind, können Menschen, die an und für sich schon Schwierigkeiten im Leben haben, noch mehr ängstigen.

STANDARD: Merken Sie die Wirtschaftskrise in Ihrer Einrichtung?

Stein: Wir merken diese Krise eigentlich schon seit Mitte des vergangenen Jahres. Wir sind eine Einrichtung, die kostenfrei und relativ niederschwellig ist. Zu uns kommen viele Menschen, die ohnedies schon sozial benachteiligt sind und Probleme haben. Wir merken seit letztem Jahr, seit die Inflation so angezogen hat, verstärkt, dass Menschen, die bis dahin gerade einmal so zurechtgekommen sind, sich plötzlich selbstverständliche Sachen nicht mehr leisten können. Das bringt ein unter schwierigsten Bedingungen aufrechterhaltenes Gleichgewicht plötzlich zum Kippen.

STANDARD: Was ist da die Intervention, die Ihre Einrichtung leisten kann? So können schwer sagen: "Das wird schon wieder."

Stein: Unserer primärer Ansatz ist ja, dass wir Menschen zuhören und sie begleiten, dass wir für sie da sind. Wir nehmen uns Zeit, wenn jemand emotional sehr belastet ist, und geben dieser Person Gelegenheit, offen über sich zu sprechen. Wir selbst haben ja keinerlei finanzielle Mittel, um Menschen direkt zu unterstützen. Aber wir wissen natürlich Bescheid, wo man diese Hilfe bekommen kann. Aber wir müssen auch feststellen, dass andere Unterstützungsangebote leider weniger werden. Für die betroffenen Menschen würde die Einführung einer Grundsicherung bestimmt eine große Hilfe darstellen.

STANDARD: Was kann das Positive an einer Krise sein?

Stein: An solchen Situationen, wie ich sie Ihnen jetzt geschildert habe, ist natürlich nur selten etwas positiv. Aber ich habe das in Ihrer Zeitung gelesen: Der Stabschef von Präsident Obama hat gesagt, dass man in Krisen Dinge tut, die man normalerweise unterlassen würde. Das ist sehr treffend. Wenn es an die Existenzbedrohung geht und man nicht mehr herausfindet, dann kann man nicht mehr von einer Chance sprechen. Aber wenn es gelingt, eine Krise zu meistern, dann hat dieser Vorgang eines hohes Reifungspotenzial. Menschen, die sehr belastet sind, haben auch die Tendenz, Dinge auszuprobieren, die sie unter normalen Umständen nicht tun würden. Für viele unserer Klienten ist der einfache Umstand, Unterstützung in Anspruch zu nehmen, bereits etwas ganz Neues. Sich Hilfe zu holen, offen über Probleme zu reden, das ist ein großer Schritt. Es ist eine wichtige Erfahrung draufzukommen, dass man im Leben nicht alles allein durchstehen muss.

STANDARD: Das könnte man auch als bescheidene Erfahrung ansehen.

Stein: Es gibt Menschen, die überwinden eine Krise und sind nachher wieder so wie vorher. Es gibt aber auch welche, die sich wirklich verändern - bei Partnerkrisen etwa. Wenn man in einer Beziehungskrise versteht, dass man auch selbst etwas falsch gemacht hat, und sich ändert, sich für eine Partnerschaft dann auch mehr Zeit nimmt. Letztendlich brauchen wir Krisen auch, um etwas dazuzulernen. Wenn alles immer funktioniert, dann ist der Anspruch, etwas dazuzulernen, nicht so hoch. Herausforderungen sind notwendig, damit wir uns weiterentwickeln. Krisen verstärken das. Wenn die Krise ein gewisses Maß an Belastung nicht übersteigt, also handhabbar bleibt, dann bietet sie die Chance, Dinge zu tun, die ich mich bis dahin nicht getraut habe.

STANDARD: Was kann die Gesellschaft aus der Krise lernen?

Stein: Ich will nicht sonntagspredigen. Aber es wäre schön, wenn man sich wieder auf andere Werte besinnt. Dass man nicht ständig nur dem Profit und dem Mehr nachläuft. Es gibt auch anderes, was einen zufrieden machen kann. Wenn man wieder miteinander redet, aufeinander zugeht, eben auch einmal innehält.

STANDARD: Welche Ursache haben Sie für die jetzige Krise ausgemacht?

Stein: Die Gier nach Profit, eine gewisse Maßlosigkeit, die starke Individualisierung. Dass man oft nicht mehr miteinander redet, dass jeder nur für sich handelt. Dass die Ziele mehr im Wirtschaftlichen und Beruflichen und immer weniger in sozialen Beziehungen - im Familiären wie im Freundschaftlichen liegen. Das Profitstreben hat Auswirkungen auf jeden Einzelnen. Das kenne ich von mir selbst. Da macht man eben noch einen Vortrag und noch ein Seminar, weil es einen aufwertet und weil es finanziell attraktiv sein kann. Da vergisst man auf anderes.

STANDARD: Was ist anders geworden zu früher?

Stein: Das, was man mit dem altmodischen Wort Solidarität bezeichnet, ist ein Stück verlorengegangen. Dass man auch auf die Schwächeren in der Gesellschaft, die nicht so leicht mitkommen, Rücksicht nimmt. Es ist heikel, an einen einzelnen Menschen so viel Hoffnung zu knüpfen, aber bei Präsident Obama hatte man das Gefühl, dass er auch an die Menschen, die es schwerer haben, denkt. Wenn die, die an der Spitze stehen, dieses Gefühl vermitteln, dann verbindet sich damit eine Chance.

STANDARD: Sind unsere Politiker in dieser Frage glaubwürdig? Knüpfen Sie an einzelne Hoffnungen?

Stein: Wir sind als Einrichtung von öffentlichen Unterstützungen abhängig. Ich möchte diese Frage daher nicht konkret beantworten. Wenn aber für die Unterstützung von Banken und Unternehmen sehr viel Geld in die Hand genommen wird, fände ich es ziemlich unausgewogen, in der Sozial-politik, im Gesundheitsbereich oder in der Bildungspolitik zu sparen. Unsere Einrichtung könnte ohne die Unterstützung der öffentlichen Hand nicht existieren. Ich wünsche mir von allen Verantwortlichen, dass sie darauf achten, dass nicht die sozial Schwächsten am meisten unter der Krise leiden.

STANDARD: Warum wählt man einen Beruf, in dem man den ganzen Tag mit dem Unglück anderer Menschen konfrontiert ist?

Stein: Für mich ist es sehr lohnend, immer wieder miterleben zu dürfen, wie das Chancenpotenzial einer Krise genutzt wird. Vermutlich hat jeder von uns seine eigene Geschichte, die er mitbringt. Diesen Beruf wählt man auch nicht ganz zufällig. Dass man das über viele Jahre machen kann, liegt auch daran, dass man Menschen in Krisen oft ganz konkret bei ihren Verän-derungsprozessen unterstützen kann. Und man lernt Menschen in einer Art und Weise kennen, wie man sie sonst im Alltag niemals kennenlernen würde. Ich finde es auch faszinierend, welches Potenzial Menschen haben, gerade in Krisensituationen Kräfte freizusetzen. Man darf da nicht nur auf die Defizite schauen, man muss auch die Möglichkeiten sehen. (Michael Völker/DER STANDARD-Printausgabe, 21./22. März 2009)