Linke Philosophen wie der Italiener Paolo Virno träumen von der "Multitude".
Rom – Die Konjunktur- und Krisenzyklen des Kapitalismus stellen die Verfechter linker, "emanzipatorischer" Theorie vor immer neue Aufgaben. So müssen die Vordenker einer "anderen" Gesellschaft heute schweren Herzens einräumen, dass der Begriff der Arbeit auch nicht mehr hält, was sich Karl Marx und dessen Jünger von ihm einst erhofft hatten.
Denker wie der italienische Philosoph Paolo Virno – ein geläuterter Linksradikaler aus dem Umkreis der "Autonomia operaia" – geben daher große, spektakuläre Verlustanzeigen auf: Die Geldmärkte krachen, und die Volkswirtschaften haften für die enstandenen Löcher. Doch es findet sich niemand, der deswegen die moderne Arbeitsgesellschaft von Grund auf infrage stellen würde.
Unter der Arbeiterklasse verstanden die Anhänger der politischen Ökonomie ursprünglich jenes "Subjekt, das den absoluten und den relativen Mehrwert produziert". Arbeit wurde "gegenständlich" in Bezug auf jene Dinge und Sachen, in deren Herstellung eine genau bemessene Arbeitszeit investiert wurde. Heute ist das Erwerbsleben, dessen Bild vom edlen "Proleten" gespeist wurde, der ohne Unterlass an seiner Werkbank schuftet, bereits reiner Anachronismus geworden.
Wer sind die "Vielen"?
Diejenigen, die den gesellschaftlichen Reichtum real erwirtschaften, nennt man heute die "Vielen" . Diese sind in ihrer konkreten "Vielheit" aber nicht konkret erfassbar. Denker wie Paolo Virno – vor ihm Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem berühmten Epochenschwellenwerk Empire – schicken das gute alte Proletariat daher in die Rente. Die linke Theorie streckt und dehnt ihre Gliedmaßen. Noch weiß man aber nicht so recht, wer der Träger kommender Umwälzungen wirklich sein könnte.
Spricht man heute über die Umwandlung und Überwindung der "fordistischen" Arbeitsgesellschaft, stößt man auf die "Multi-tude" : ein marginaler Begriff aus der Frühzeit der politischen Theorie. Er meinte in den Tagen von Thomas Hobbes (17. Jahrhundert) nichts anderes als jene unorganisierten Bürger, deren bloßes Da-Sein der klassische Staat bereits als Bedrohung seines "einheitlich" gefassten Willens empfinden musste. Heute feiert dieses eigentlich verfemte Wort unter den Bedingungen der Globalisierung ein spektakuläres Comeback.
Das Subjekt des zeitgenössischen Erwerbslebens ist ein solcher Einzelner, der sich unter lauter "Vielen" wiederfindet. Er stellt keine Schrauben, und er raspelt auch keine Eisenspäne. Die Notdurft der körperlichen Mühsal hat – wenigstens in unseren Breiten – der vollautomatisierte Maschinenpark den arbeitenden Menschen großteils abgenommen.
Das neue Heer der Teilzeitarbeiter, der Erwerbslosen und geringfügig Beschäftigten wird anderweitig "versklavt". Wie prekär auch immer jemand sein Brot verdient: Er sieht sich dem Druck einer Angst ausgesetzt, die mehr meint als die bloße Sorge um den folgenden Tag. Die Globalisierung räumt nämlich gründlich auf mit allen Brauchtumsgemeinschaften, in deren wärmendem Schoß man frühere Krisen geduldig, umhegt und umsorgt aussaß.
Die Welt, schreibt Paolo Virno in seiner Programmschrift "Grammatik der Multitude" (verlegt bei Turia und Kant 2008), tritt dem um sein Fortkommen Bangenden neuerdings wieder "unverstellt" gegenüber.
Jeder, der für sein Einkommen zu sorgen hat, muss Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden, die ihm eine hohe Anpassungsfähigkeit ermöglichen. Der Held kommender, sich auf noch keinem Zukunftshorizont abzeichnender Arbeitskämpfe muss sich auf dasjenige Grundwerkzeug verlassen können, das allen Menschen mit-gegeben ist: den Grips, den man in Ausbildungsseminaren vielleicht "kommunikative Kompetenz" nennen würde.
Begriff des "General Intellect"
Virno bedient sich, um nur ja keinen Zweifel an seiner "kritischen" Grundhaltung zu lassen, eines Begriffes von Marx. Er bezeichnet die Fähigkeiten der sich selbst Flexibilisierenden als "General Intellect". Auf ihn greift zurück, wer sich im Feld der Öffentlichkeit zu behaupten hat. Und sind heutige Arbeitsstätten nicht fast alle strukturiert wie "öffentliche Räume" ? Wer heute in einer Betriebszelle arbeitet, der muss lernen, mit anderen zu kooperieren. Er muss Argumente gebrauchen, um ein angestrebtes Produktionsziel bestmöglich zu erreichen. Er hat alle potenziellen Mittel an der Hand, um Widerspruch zu formulieren, und er kann – allein mit der Kraft des Wortes – als "politisch Handelnder" Wirksamkeit entfalten.
"Handeln ist Zweck an sich", formuliert die neue Linke gutgelaunt. Sie trägt eine geradezu pausbäckige Zuversicht zur Schau. Kommunikation sei die "Königin" unter den Produktivkräften. Mit sehnsüchtigem Blick auf die immaterielle Arbeit und deren Zulieferer träumen Virno und Co von einem neuen Subjekt, das, um sich zu emanzipieren, die alte, "nationalstaatliche" Politik wie einen Bettel hinter sich lässt.
Natürlich eröffnen Einrichtungen wie das weltweite Netz Einblicke in die Vielstimmigkeit einer Weltgesellschaft, die sich an den Herdfeuern ihrer Eloquenz die immer geringfügiger beschäftigten Hände wärmt. Noch werden aber auch Löhne gezahlt. Und das geradezu blinde Vertrauen der Geldwirtschaft in die Nationalstaaten und deren Haftungserklärungen macht deutlich: Die nächste "Revolution" lässt bestimmt noch lange auf sich warten. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.03.2009)