Dmitry Glukhovsky: "Metro 2033"

Broschiert, 783 Seiten, € 14,40, Heyne 2008.

Das hat sich doch geradezu aufgedrängt, die schon in der Realität fantastische Welt der Moskauer U-Bahn zum Hintergrund eines Science Fiction-Romans zu machen: Wo die Stationen von Deckengemälden, Marmorskulpturen und riesigen Kronleuchtern geschmückt sind, wo Atombunker angelegt wurden und wo es Rolltreppen gibt, die so lange sind, dass Pendler auf ihrem täglichen Arbeitsweg dafür einen eigenen Zeitposten einkalkulieren müssen.

Von dieser Imposanz der "Paläste des Volkes" ist im Roman allerdings nichts mehr geblieben, nachdem ein nicht näher bezeichneter Krieg die Welt verwüstet und die Oberfläche verstrahlt hat. 25 Jahre danach leben die Nachkommen derer, die sich in die Metro retten konnten, in einem unterirdischen Flickenteppich von Mini-Staaten. Stationen mit gleicher Weltanschauung haben sich entlang ideologischer Grenzen zu Bündnissen zusammengeschlossen: Eine rein ökonomisch interessierte Hanse ist dabei ebenso vertreten wie vom organisierten Verbrechen regierte Gebiete, das faschistische Vierte Reich und Sowjet-Nostalgiker, die Polis der Intellektuellen oder diverse extremistisch veranlagte Religionen. Eine der Romanhandlung angepasste Karte des Moskauer U-Bahnnetzes im Bucheinband bietet Überblick über das komplizierte Flechtwerk, das wie ein miniaturisiertes Zerrspiegelbild der russischen Gesellschaft von heute wirkt ... plus ein paar Extras wie Stationen, die von Mutanten erobert wurden.

Quer durch dieses Panoptikum treibt der russische Autor Dmitry Glukhovsky den jungen Protagonisten seines Debütromans: Artjom wurde als Kleinkind aus seiner von Rattenschwärmen überfallenen Heimatstation gerettet und ist in der relativ bürgerlichen Station WDNCh aufgewachsen. Der droht nun eine Invasion der nicht-menschlichen Schwarzen - wie alles Unnatürliche, Mutierte und Furchteinflößende, von dem viel die Rede ist, bleiben diese übrigens die längste Zeit im Bereich des Hörensagens: Erst als Artjom mit einem (kleine Anleihe an die Gebrüder Strugatzki) Stalker die Oberfläche erkundet, nehmen die Wesen, von denen jedes einzelne Darwin zur Verzweiflung gebracht hätte, auch in der aktuellen Handlung Gestalt an. Davor jedoch steht eine lange Irrfahrt durchs Metro-Netz, auf der Artjom immer wieder geheimnisvollen Männern begegnet: Dem Jäger Hunter, der ihn überhaupt erst auf seine Mission schickt, dem mit hypnotischer Kraft Untergangsvisionen heraufbeschwörenden Khan ... aber auch der skurrilen Che-Guevara-Brigade, Schmugglern, Kultanhängern und Faschisten.

Als Feministen könnte man Glukhovsky schwerlich bezeichnen: Von Frauen wird nur anfangs pauschal erwähnt, wie sehr es ihnen gefiele sich an die starke Brust eines Mannes zu flüchten - und insgesamt kommen die paar weiblichen "Nebenfiguren" (schon eher sind es Cameo-Auftritte) in 760 Seiten Handlung auf vielleicht zehn Dialogzeilen. Dafür sind die Männer umso größere Plaudertaschen: Jeder schwelgt in ideologisch gefärbten Welterklärungen, persönlichen Anekdoten und vor allem in Gerüchten. - Durchaus passend zu einer klaustrophobischen Welt, in deren Tunneln Wahnvorstellungen blühen und wo sich in Rekordzeit neue Mythologien herausgebildet haben.

"Metro 2033" lebt von der Einzigartigkeit des Settings - wenn Glukhovsky auch über all den gehetzten Fluchten Artjoms von einer gefährlichen Situation in die nächste das Ziel von dessen Mission und damit den eigentlichen Handlungsbogen mitunter aus den Augen verliert. Und zwar gründlich genug, dass selbst die bittere Schlusspointe etwas von ihrer potenziellen Wucht verliert. - Nichtsdestotrotz bleibt es ein spannender Roman, der es ohne den derzeitigen Boom in Sachen russischer Phantastik vielleicht nicht auf den deutschsprachigen Markt geschafft hätte. Zu wünschen wäre, dass bald einmal auch ein Lukianenko-artiges Zugpferd aus Japan oder Frankreich die Bestsellerlisten stürmen würde, das eine ähnliche Welle an Übersetzungen auslöst.

Coverfoto: Heyne

Ekaterina Sedia: "Die geheime Geschichte Moskaus"

Gebundene Ausgabe, 326 Seiten, € 20,50, Klett-Cotta 2009.

Bleiben wir gleich in der Moskauer U-Bahn, ist doch grade so schön ungemütlich hier. In "The Secret History of Moscow" - Ekaterina Sedia ist eine russische Autorin, die heute in New Jersey lebt und ihre Romane auf Englisch schreibt - bildet das Metro-Netz allerdings nur einen der Übergänge zu einer noch tiefer liegenden Welt, und die ist in der Urban Fantasy anzusiedeln.

Vorneweg: Wer gewohnt ist, erst mal im Buchgeschäft ein, zwei Kapitel zu lesen, bevor er/sie eine Kaufentscheidung trifft, könnte einen ungünstigen aber falschen Eindruck gewinnen - verstärkt durch das Klappentext-Foto, auf dem sich Sedia mit kitschiger venezianischer Maske präsentiert. Denn zunächst baden alle drei ProtagonistInnen erst einmal im Selbstmitleid: Galina, 28-jährige Übersetzerin eines Wissenschaftsverlags, die schon in psychiatrischer Behandlung war, weil sie zu Selbstverletzungen neigt. Jakov, ein etwa gleichaltriger Polizist, der sich für inkompetent hält (Jakov hatte noch nie leiden können, wie er aussah, lautet der Satz, mit dem er vorgestellt wird). Und Fjodor, der als Straßenkünstler zu seinem niedrigsten Energiestatus gefunden hat. Seltsame Ereignisse führen die drei zusammen: In Moskau verschwinden Menschen - Augenzeugen berichten, diese hätten sich in Vögel verwandelt. Jakov, der selbst einen solchen Fall beobachtet hat, wird mit den Ermittlungen beauftragt und begegnet in deren Zuge Galina und Fjodor. Und als sich die drei auf die Spur der Verschwundenen setzen und dabei wie ein seltsames Expeditionskorps in ein verborgenes unterirdisches Reich vorstoßen, ist es mit der Weinerlichkeit vorbei.

Im Untergrund erwartet sie eine eigentümliche Welt, die von totgeglaubten Menschen aus verschiedenen Epochen der russischen Geschichte ebenso bewohnt wird wie von Fabelwesen jeder Couleur: Wassergeister wie Wodjanoj und Rusalki leben hier im Exil, der prophetische Vogel Gamajun und selbst Väterchen Frost. Sedia schöpft aus dem Vollen der russischen Mythologie und konfrontiert deren Figuren mit Erscheinungen der modernen Zeit - ähnlich wie es Neil Gaiman in "American Gods" mit Gottheiten aus aller Herren Länder getan hat. Doch ist der Ton der Erzählung hier ein anderer. Bei Sedia hat man den Eindruck, in einem Exilanten-Café zu sitzen, in dem ebenso schillernde wie redselige Charaktere der Reihe nach eintrudeln, um ihre persönlichen Geschichten loszuwerden. Woraus sich in märchenhafter Form ein Streifzug durch die jüngere Vergangenheit Russlands ergibt.

Uns wird keiner vermissen, wir sind die ungeliebten Kinder dieser Welt, klagen die Exilanten. Zugleich bekennen sie sich zur Sorge um ihre alte Heimat an der Oberfläche und darüber, dass sich in politisch schweren Zeiten der Zustrom von oben stets erhöht. Sie prahlen - wie Väterchen Frost mit seinen humorigen Zurechtrückungen der Geschichte - damit, was sie für Mütterchen Russland alles geleistet haben. Und sie sind sich bewusst, dass das unterirdische Sammelsurium, in dem sie nun aufeinander sitzen, Potenzial für neue Konflikte (und damit übrigens auch für den weiteren Spannungsbogen des Romans) birgt: Komisch, dass du glaubst, wenn man einmal alle Außenseiter an einen Ort steckt, dass dieser Ort dann durch irgendeine Zauberei zu einem Paradies wird, hält eine der "Toten" Galina vor. - "Die geheime Geschichte Moskaus" ist ein von einer unbestimmten Sehnsucht durchzogener Roman, in dem sich Magie und Realitätssinn, Melancholie und humorige Geschwätzigkeit die Waage halten - eine poetische Geschichte über das Leben im Exil.

Coverfoto: Klett-Cotta

Jonathan Strahan (Hrsg.): "Eclipse Two"

Broschiert, 282 Seiten, Night Shade Books 2008.

Anthologien haben den tollen Nebeneffekt, dass nicht nur das Lesen an sich Spaß machen kann - mit etwas Glück wecken die Erzählungen auch Appetit, sich dem Langformat eines Autors zu widmen. Wie hier etwa "Hero" von Karl Schroeder, das jüngste Kapitel in der Geschichte der fantastisch konstruierten Welt von "Virga" (mehr dazu siehe die nächste Seite). - Herausgeber-Zampano Jonathan Strahan beweist mit seiner neuen Anthologien-Reihe "Eclipse" und illustren Autorennamen wie Stephen Baxter oder Alastair Reynolds einmal mehr Geschmackssicherheit: 15 Kurzgeschichten sind enthalten - und darunter wieder einige, bei denen man weiß, warum man Science Fiction liest.

Zum Beispiel "Michael Laurits Is: Drowning" von Paul Cornell, worin beschrieben wird, wie ein Mensch in eine virtuelle Existenzform (lief genannt) übergeht. Die Geschichte fängt den Moment einer Zeitenwende ein: Etwas Unerhörtes ist geschehen, die philosophischen und ökonomischen Probleme, die sich aus dem heraufdämmernden Posthumanismus-Szenario ergeben werden, sind noch nicht abzuschätzen - aber irgendwie, so der Tenor, wird's schon weitergehen; muss ja. - Ein leuchtender Punkt auf dem Mond, der laut Prognose noch da sein wird, wenn Erde, Sonne und die Galaxien längst verschwunden sind, steht am Anfang von Stephen Baxters "Turing's Apples": Anhand zweier ungleicher Brüder, des Familienmenschen Jack und des in großen Dimensionen denkenden SETI-Forschers Wilson, wird erzählt, wie dieser Punkt in den 2020er Jahren entstand ... und was passieren kann, wenn man ein Alien-Signal durch die Rechner einer Antiterror-Behörde jagt. Baxter war in jüngster Zeit ja mehrfach in der Nahzukunft unterwegs - sein Katastrophenroman "Flood" wird in Kürze auf Deutsch erscheinen. - Und einmal mehr fasziniert Ted Chiang mit einem wohldurchdachten Gedankenspiel: Wie würde sich ein Anstieg der Entropie in einem (Mini-)Universum auswirken, das nichts anderes ist als eine von einem undurchdringlichen Chrom-Mantel umhüllte Argon-Blase? In "Exhalation" führt einer der metallischen Bewohner dieses Universums eine Vivisektion an seinem Gehirn durch - und erkennt dabei nicht nur die Funktionsweise seines Denkens, sondern auch, welches Ende seine Welt nehmen wird.

... das wären schon mal vier sehr gute Gründe "Eclipse Two" zu lesen. Konventioneller gestrickt, aber spannend ist "Fury" von Alastair Reynolds, der wie aus dem Kurzgeschichten-Lehrbuch die Bedeutung des Eröffnungssatzes demonstriert: I was the first to reach the emperor's body, and even then it was too late to do anything - die Geschichte eines Verbrechens und der Frage, ob auch nach zehntausenden von Jahren Sühne noch erforderlich ist. Das Lachen im Hals stecken bleibt einem bei "The Seventh Expression of the Robot General" von Jeffrey Ford: Einst war der Robot-General mit seinen sieben Gesichtsausdrücken (darunter Grimness 1 und 2) ein Schlächter und Kriegsfanatiker, der selbst Robert A. Heinleins Figuren erblassen ließe - jetzt ist er nur noch ein belächeltes Relikt. - Und geschickt mit Ambivalenzen spielt auch Daryl Gregory mit "The Illustrated Biography of Lord Grimm". Immer wieder führt die Übertragung von Comic-Welten ins literarische Format zu seltsamen Effekten ... und auch zu neuen Perspektiven. Für die leidgeprüfte Bevölkerung des faschistoiden Trovenia macht es jedenfalls keinen Unterschied, ob der Feind Bomberpiloten schickt, oder ob "gute" Superhelden - für die Trovenier imperialists in long underwear - alles in Schutt und Asche legen. Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben sie auch keine: Das Gesetz der (Comic-)Serie verlangt schließlich, dass am Ende alles wieder zur Ausgangsposition zurückkehrt.

Wie einfach man aus dem Alltäglichen in die Phantastik rutscht, indem nur ein vertrautes Element ausgetauscht wird, zeigt Richard Parks mit "Skin Deep": Zu Beginn der Geschichte steht Protagonistin Ceren vor dem Regal - doch nicht, um sich ein Kleid herauszusuchen, sondern eine Haut. - Dem alten Szenario vom steckengebliebenen Fahrstuhl kann man immer wieder mal eine Geschichte abgewinnen - so auch Bestseller-Autorin Nancy Kress mit dem eher durchschnittlichen "Elevator"; atmosphärisch packend hingegen Margo Lanagan mit ihrer Adaptation der biblischen Plagen und des Marsches durchs Rote Meer in "Night of the Firstlings". Womit die Fantasy-Quote von "Eclipse Two" auch beinahe schon ausgeschöpft wäre, denn Strahan hat Band 2 im Vergleich zu dessen Vorgänger deutlich mehr in Richtung Science Fiction gedreht. Eine Mystery-Geschichte bleibt jedoch noch, und die ist zugleich ein absolutes Highlight: In "The Rabbi's Hobby" schildert Altmeister Peter S. Beagle, wie sich der vor seiner Bar Mitzwa stehende Joseph und sein Rabbi auf die scheinbar aussichtslose Suche nach dem Model eines uralten Zeitschriften-Covers machen. Doch sie werden fündig, und daraus erwächst eine ebenso menschliche wie poetische Geschichte ... also wer davon nicht zu Tränen gerührt ist, dem ist echt nicht mehr zu helfen.

 

Coverfoto: Night Shade Books

Karl Schroeder: "Sun of Suns"

Broschiert, 336 Seiten, Tor Books 2007.

Aaaah, Worldbuilding: Die Kunstform in der Science Fiction, die in jedem Leser (ganz geschlechtsneutral) den kleinen Jungen weckt. Vielleicht sollten wir hier einmal eine Umfrage starten, wer diesbezüglich die herausragendsten Ideen hatte. Wie wäre es etwa mit Larry Niven, der neben der "Ringwelt" auch die in einem Gas-Ring schwebenden Gigant-Pflanzen von "The Integral Trees" ("Der schwebende Wald") schuf? Brian Aldiss' Super-Jahreszeitenwechsel in "Helliconia" oder Jack Chalker mit seiner "Welt von Fluss und Anker" oder den geometrischen Habitaten der "Sechseckwelt"? Oder - lange nach der Hochblüte der Science Fantasy in den 70ern und 80ern - Stephen Baxters bemerkenswert bizarre Lebensräume, die er im Rahmen des "Xeelee"-Zyklus schuf?

In Karl Schroeders "Sun of Suns" merkt man gleich auf Seite 1, dass diese Welt etwas anders konstruiert ist. Immerhin ist die Rede davon, dass ein Aussetzen der Schwerkraft bevorsteht und eine neue Sonne entzündet werden soll - und das im alles andere als hochtechnologischen Setting einer aus Holz gebauten Stadt, durch deren Bodenplanken die Strahlen der alten Sonne schimmern. - "Virga", so der Name der Welt und eines mittlerweile drei Romane umfassenden Zyklus, ist ein 5.000 Meilen durchmessender luftgefüllter Ballon, der am Rande des Wega-Systems schwebt. Eine Anzahl künstlicher Sonnen versorgt Virga mit Licht und Wärme, deren größte die im Zentrum positionierte Candesce, die sun of suns, ist. Bewohnbar sind nur die Zonen im direkten Einstrahlungsbereich von Sonnen - dazwischen liegen dunkle und tödlich kalte Gebiete, die schlicht winter genannt werden (auch sie sind aber kein Vakuum). Und auch wenn Virga zu wenig Gesamtmasse enthält, um fühlbare Gravitation zu bewirken, quillt sie vor Leben über: Kugelförmige Ballungen aus Wasser, kilometerlange Insekten und Wälder, die von Asteroidenbrocken aus in alle Himmelsrichtungen wachsen, schweben durch die Schwerelosigkeit. Und dazwischen die Nationen der Menschen mit ihren rotierenden Rad- oder Zylinder-förmigen Städten, welche mittels Zentrifugalkraft Gravitationswirkung simulieren - Schwerkraft ist in Virga keine spürbare Naturkraft, sondern ein public service. Rund um diese Nationen wimmelt die Luft von Menschen, die mit Kerosin-betriebenen Holzschiffen, bikes mit primitivem Raketenantrieb oder auch mit muskelgesteuerten Flügeln unterwegs sind. Avanciertere Technik lässt die Strahlung Candesces nicht zu.

Der Romanplot entwickelt sich ausgehend von einer Rachegeschichte: Der junge Hayden Griffin von der okkupierten Nation Aerie will den Mann töten, den er für die Invasion seiner Heimat und den Tod seiner Eltern verantwortlich macht: Admiral Chaison Fanning von der auf einer erratischen Bahn wandernden Nation Slipstream. Die persönliche Begegnung mit seinem Erzfeind fällt allerdings anders aus als gedacht - und zwei Frauen bringen Hayden zusätzlich durcheinander: Venera Fanning, die ebenso skrupellose wie faszinierende Frau des Admirals, die sich ihrerseits auf einem Rachetrip befindet (dessen Ursprung gibt Schroeder übrigens die Gelegenheit, die spezielle Topografie Virgas in einem geradezu poetischen Kapitel zu schildern). Und zweitens Aubri Mahallan, Waffenmeisterin des Admirals - zugleich aber auch eine Asylantin aus der Außenwelt. Denn jenseits von Virgas schützender Hülle liegt die menschliche Superzivilisation der Fernzukunft, und die spielt auf einem anderen Level. Schroeder macht diese Kluft in beeindruckender Weise deutlich und muss dafür nicht einmal hochtechnologische Importartikel bemühen: die Soziologie der Außenwelt ist noch viel fremdartiger (und bedrohlicher) als jedes ihrer Produkte. So begegnen die ProtagonistInnen in einer Virga angeflanschten "Touristenstation" unter anderem einer chinese room persona: Irgendwo in der Außenwelt haben sich Millionen einer game church angehörender Menschen zu einem Verbund zusammengeschlossen, in dem jeder Einzelne die Rolle eines Ganglions spielt. Die Summe ihrer Interaktionen ergibt ein bewusst handelndes neues Individuum  - einen Meta-Menschen, und doch nur eine weitere Person von vielen.

Auf den Kern reduziert handelt es sich bei "Sun of Suns" um ein Mantel-und-Degen-Abenteuer mit plausibel gezeichneten Charakteren; aufgrund des technologischen Stands könnte man auch von Steampunk sprechen. Allerdings verfällt man beim Lesen unweigerlich am laufenden Meter in Aahs und Oohs ob der fantastischen Alltäglichkeiten in einer Welt ohne Schwerkraft - da spielt die eigentliche Handlung ohnehin nur die zweite Geige. Ein faszinierendes Leseerlebnis bereitet der kanadische Autor einem auf jeden Fall - mit "Queen of Candesce" (2007) und "Pirate Sun" (2008) lässt es sich unmittelbar fortsetzen; ein vierter Roman ("The Sunless Countries") soll noch heuer erscheinen.

Coverfoto: Tor

Thomas Plischke: "Die Ordenskrieger von Goldberg"

Broschiert, 392 Seiten, € 9,20, Piper 2009.

Weiter geht es mit dem Autor, der - ob beabsichtigt oder nicht - einen der Fantasy inhärenten "Logikschwachpunkt" beseitigt - und zwar in Sachen Zwerge. So erfinderisch und technisch begabt, wie diese stets gezeichnet werden, beginnt man sich doch irgendwann zu fragen, warum sie dann immer noch in ihren Höhlen hocken - Entwicklungspotenzial haben sie ja offenbar. Bei Thomas Plischke haben die Zwerge das auch endlich ausgenutzt - die sich daraus ergebende Welt wurde bereits in der Rezension zu Teil 1 des Zyklus "Die zerrissenen Reiche" beschrieben; und hier verläuft somit die Spoiler-Grenze für diejenigen, die diesen Teil erst nachholen wollen.

Der Zwergenbund im Norden der Welt setzt auf Krieg - immerhin hat das Amt für Prognostik wirtschaftlichen Stillstand vorausgesagt, wenn man sich nichts einfallen lässt. Die Augen der Zwerge richten sich auf den südlichen Nachbarkontinent, wo die Zerrissenen Reiche der Menschen liegen. Diese verstehen sich allesamt als Knechte und Mägde der mythischen Herren - doch irrwitzige Überinterpretationen von Einzelpassagen ihrer Heiligen Schriften haben sie in endlose Glaubenskriege getrieben. Zwergische Missionierung im Namen von Wissenschaft und Vernunft kann da nicht schaden, und der Expansionskrieg ist ebenso durchorganisiert wie der Zwergenbund selbst: Dampfschiffe und Kanonen werden auf den Weg geschickt, Fachleute für Verhaltensstudien berechnen die Erfolgsquote, wie leicht man Menschenstädte durch bloße Bedrohung zur Kapitulation bringen kann. Und daheim titeln die Zeitungen: Auf zum Sieg!

... aber vielleicht haben die Zwerge mehr abgebissen, als sie schlucken können. Das deutet zumindest eine Szene an, in der der aus dem Zwergenbund geflohene Ex-Polizist Garep Schmied eine Tätowierung verpasst bekommt, die ihn die Menschensprache verstehen lässt: Die als Aberglaube abgetane Magie scheint also doch zu funktionieren - ein schlechtes Omen für den anstehenden Feldzug. Garep und seine menschliche Freundin Arisascha stranden als Schiffbrüchige im Süden, während Arisaschas Bruder Siris und der Zwerg Himek Steinbrecher mit der Invasionsarmee unterwegs sind. - Zu diesen vier ProtagonistInnen des ersten Teils kommen nun weitere wichtige Charaktere hinzu: Esavintje, die als Ordensmutter von Goldberg einer Shaolin-artigen Zitadelle und damit gleichzeitig einer äußerst fragilen Über-Organisation einiger Menschenreiche vorsteht; sie wird angesichts der Zwergen-Invasion versuchen zu retten, was zu retten ist. Und weiters die Zwergin Karu Schneider: In Teil 1 noch eine Nebenfigur, stellt sie nun brisante Privat-Ermittlungen im Zwergenbund an: Der Krieg stinkt, die öffentlichen Stellungnahmen dazu ebenso - und in den historischen Archiven finden sich immer mehr Seltsamkeiten: Sieht ganz so aus, als wollte jemand die Geschichte des Zwergenbunds umschreiben.

Wie schon der vorangegangene Teil wartet auch "Die Ordenskrieger von Goldberg" mit einer erfrischend anschaulichen Sprache auf - eine Zwergin jenseits der Menopause beispielsweise hat ein Alter erreicht, in dem ihr kein Kiesel mehr aus der Spalte rollen würde. Der Handlungsbogen hält die Spannung in routinierter Weise aufrecht und Überraschungseffekte setzt es auch wieder: Lagen diese in Teil 1 noch auf zwischenmenschlicher bzw. -zwergischer Ebene, so betreffen sie nun das Wesen der verschwundenen Herren respektive die Geschichte der Welt: Da sind mechanische Alte Diener unter Goldberg am Schürfen - und im Sitzungssal der Zitadelle befindet sich etwas, dessen Beschreibung verdächtig nach einem Hologramm klingt. Das kommt übrigens schon früh im Buch, ist also noch nicht gespoilert. Spätestens die nächsten Zyklus-Teile (noch stehen keine Veröffentlichungstermine fest) werden zeigen, ob die Zwerge ihre Wanderung von der Fantasy über den Steampunk bis ins nächste Genre fortsetzen.

Coverfoto: Piper

Sam Enthoven: "Black Tattoo"

Broschiert, 444 Seiten, € 13,40, Blanvalet 2008.

Es gibt so Sätze, die äußert man arglos und hält's gar für eine pfiffige Idee ... bis sie gegen einen verwendet werden und sie einen für immer verfolgen. Stephen King kann ein Lied davon singen, seit er seine Romane mal mit einem Burger verglich. Und ebenso Jürgen Klinsmann mit seiner Fehleinschätzung, er wolle jeden Bayern-Spieler jeden Tag besser machen. - Ähnliches könnte dem Briten Sam Enthoven bei wenig wohlwollender Aufnahme seines Debütromans widerfahren, in dessen Klappentext der ambivalente Slogan prangt: Enthoven wolle Bücher schreiben, die den Leser dazu treiben, gleich das nächste Buch zu lesen - das gar nicht aus seiner Feder stammen müsse ...

Im Mittelpunkt von "Black Tattoo" stehen zwei 14-jährige Jungen: Jack Farrell und sein Kumpel Charlie Farnsworth - Jacks Vorbild in Sachen Coolness. Eines Tages werden sie von einem Angehörigen der Bruderschaft des Schlafes auf der Straße aufgegabelt und - etwas unwahrscheinlich - sofortig in deren wichtigste Geheimnisse eingeweiht: Es gilt einen Dämonen, den Geißeler, zu bannen, dessen destruktive Ziele im Verlauf des Romans sogar noch weit über das hinausgehen werden, was ohnehin schon befürchtet wurde. Verbunden ist der Dämon mit einem schwarzen Rückentattoo, das durch einen verräterischen Akt auf Charlie überspringt und ihm so etwas wie Superkräfte verleiht. Allerdings auch seine Persönlichkeit verändert - und die zögerlichen Reaktionen von Charlies Gefährten auf dessen nihilistische Anflüge wären bereits die nächste strukturelle Unglaubwürdigkeit des Romans. Charlie wechselt schließlich mitsamt dem Geißeler in die Hölle hinüber, Jack und die kampfkräftige Teenagerin Esme, die von der Bruderschaft ausgebildet wurde, setzen sich auf seine Spur.

"Black Tattoo" entwickelt sich am neuen Schauplatz zu einer Action-Achterbahnfahrt mit comichaften Zügen, es wimmelt von bizarren Schauplätzen und knalligen Ideen, die mal gut (Gott arbeitet nach seiner Abdankung als untergeordneter Archivar in der Hölle), mal weniger gut (bei dämonischen Gladiatorenkämpfen laufen unter anderem Velociraptoren durchs Bild) sind. Was im Gegensatz zu den Schwächen in der Handlungslogik übrigens keinen Abstrich an der Glaubwürdigkeit der Geschichte, sondern lediglich einen Teil der phantastischen Prämisse ausmacht - AutorInnen wie Steph Swainston oder China Mieville stopfen ihre Romane ja auch mit grellen Versatzstücken aus allen möglichen Genres voll und erschaffen daraus Atemberaubendes.

"Wir werden den Drachen erwecken. Und sobald das geschieht, wird sein Blut diese Herzkammer durchfluten, und der Drache wird die Schöpfung ungeschehen machen, und die Reinheit der Leere wird wieder vollkommen sein." - "Ist ja eine Wahnsinnsgeschichte." Coole Oneliners, ein paar aus der Mythologie entlehnte Namen hier und etwas asiatische Kampfkunst mit einem Kung-Fu-Girl obendrauf da, humoristische Einlagen und zum Schluss ein kataklysmischer Showdown ... das liest sich ein bisschen wie das Treatment für eine "Buffy"- oder "Angel"-Staffel. Der Grund, warum es als eine solche funktionieren würde, ist einfach: Da würde der Serienregisseur die witzigen / liebeskitschigen / flapsigen Dialoge mit professionell ins Bild gesetzter Action kontrastieren. In einem Buch ist man da ganz auf die Sprachgewalt des Autors angewiesen, und die scheint bei Enthoven doch limitiert. Ein Beispiel: Als zu Beginn sowohl der Dämon als auch die ihn bekämpfende Bruderschaft mit ganz unterschiedlicher Bedeutung frisches Blut sozusagen fordern, klingt dies zunächst nach einem bewussten Kunstgriff. Erst später merkt man, dass immer wieder gleichlautende Passagen auftreten: Esmes Augen blitzen jedes Mal bernsteinfarben, und wenn der Dämon spricht, klingt seine Stimme stets aufs Neue so, als würde sie hinter den Augäpfeln Explosionen auslösen. Da ist es mit der Imaginationskraft nicht so weit her.

Natürlich kann in Sachen Anspruch das All-Age-Argument ins Feld geführt werden, nimmt man das Alter der ProtagonistInnen als Hinweis auf die angepeilte Zielgruppe. Allerdings - kurzer persönlicher Einschub - hatte ich in dem Alter zumindest den "Herrn der Ringe" und den einen oder anderen "Darkover"-Roman bereits hinter mir. Die waren ohne stilistische Zugeständnisse an ein jugendliches Publikum geschrieben, und soooo überfordert hab ich mich davon auch nicht gefühlt - in der Schule liest man in dem Abschnitt Cicero und Dürrenmatt; ebenfalls ohne Anpassungen. Und wenn man sein Publikum für erwachsen genug hält, es lesen zu lassen, wie Menschen bei lebendigem Leib in Verdauungssäften aufgelöst werden ... na dann werden sie auch einen anspruchsvolleren Stil verkraften. - "Black Tattoo" ist kein schlechtes Buch, aber ein sehr schlicht gestricktes. Ganz gemäß Jacks Befund: Er hatte schon schlechtere Geschichten gehört und - zugegeben - auch bessere. Eindeutig öfter letzteres.

Coverfoto: Blanvalet

Juli Zeh: "Corpus Delicti"

Gebundene Ausgabe, 263 Seiten, € 20,50, Schöffling & Co 2009.

Thomas Glavinic, Thor Kunkel, Christian Kracht und jetzt Juli Zeh: Gelegentlich lehnen sich auch deutschsprachige AutorInnen - mehr oder weniger weit - in die Genre-Literatur herein. Die mehrfach ausgezeichnete Bonnerin Juli Zeh tut's mit einem Buch, das sich zwar eines dystopischen Szenarios bedient, deswegen aber nicht unbedingt gleich als "Science Fiction-Roman" gelten muss oder kann - und das sich auch nicht so liest, als wäre das die erklärte Absicht der Autorin gewesen.

Blitzsauber ist sie, die Welt des mittleren 21. Jahrhunderts: Die Romaneröffnung lässt kurz den Blick über renaturierte Landschaften und ökologisch strukturierte Siedlungen schweifen. Doch wieder einmal sind die Träume der Väter zu den Albträumen der Söhne geworden, denn blitzsauber und totalhygienisch sei auch der Mensch: Das verlangt die METHODE, eine totalitäre Gesellschaftsordnung mit Fitness-Lächeln. Die Philosophie der METHODE wird im ausgeklügelt ambivalenten Vorwort des Romans - einem Auszug aus dem zentralen Lehrbuch von METHODEN-Mastermind Heinrich Kramer - angerissen: Gesundheit als Zustand des vollkommenen Wohlbefindens wird als soziales Phänomen definiert. Das liest sich in den ersten Sätzen noch wie ein moderner, "ganzheitlicher" Ansatz, kippt aber schnell in eine Richtung, die auch eine ganz andere Auslegung zulässt - und das ist dann genau die, welche die METHODE praktiziert: Wer nicht gesund lebt, schadet dem Gemeinwesen und hat mit Strafe zu rechnen. Genussmittel sind verboten, eine tägliche Quote an Leibesübungen ist verpflichtend vorgeschrieben, Sensoren in der Toilette melden die Zusammensetzung der Ausscheidungen. Die Überwachung der Gesundheitsvorsorge übernehmen der Staat und die Wächterhäuser - eine Neuanwendung des alten Blockwart-Systems.

Wie in vielen Dystopien gerät eine unschuldige und zu Beginn noch unkritische Figur in die Mühlen des Systems: Hier ist es die junge Biologin Mia Holl, deren Bruder Moritz wegen Vergewaltigung ins Gefängnis eingeliefert wurde und dort Selbstmord beging. Mia möchte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden, um ihre persönliche Trauer zu verarbeiten. Doch was eine Privatangelegenheit sein darf, definieren immer noch die powers that be - und so wird Mia wie schon einstens Heinrich Bölls Katharina Blum zum Objekt öffentlichen Interesses und schließlich gar zum Systemfeind hochstilisiert. Zunächst noch ohne ihr Zutun, langsam aber zeigt das Erbe von Moritz - symbolisiert in der idealen Geliebten, einer imaginären Begleiterin Moritz', die Mia von ihm "übernommen" hat - Wirkung. Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann, war Moritz' zentrale Weltsicht, die für das System völlig intolerabel ist. Im Dialog mit der Geliebten und damit dem Gedankengut ihres Bruders macht Mia eine persönliche Wandlung durch - voller Interesse beobachtet von Heinrich Kramer.

Juli Zeh packt eine Menge Unterschiedliches in den kurzen Roman: Satirische Züge - man grüßt sich mit "Santé!" oder flucht "Hol mich der Virus!"; statt der RAF ist die Terrororganisation RAK (Recht auf Krankheit) umtriebig - sind ebenso vorhanden wie stimmige Bilder: Etwa wenn Mia im beschlagenen Spiegel das Muster nachzeichnet, das die Durchlasspunkte auf der Plexiglasscheibe im Gefängnis zeigten. Demgegenüber stehen die Traktat-artigen Monologe und Dialoge, die weite Strecken des Romans ausmachen und ihn recht abstrakt erscheinen lassen. Dass der Roman auf einem Theaterstück basiert, zeigt sich auch an dem nicht immer plausiblen "multifunktionellen" Auftreten des zahlenmäßig beschränkten Personals: Etwa Heinrich Kramer, der im Fernsehen ebenso zuhause scheint wie im Gerichtsgebäude oder bei der persönlichen Recherche in Mias Wohnung, oder Mias drei Nachbarinnen, die wohl die Rolle des Volks einnehmen.

Es wäre leicht, "Corpus Delicti" als Science Fiction-Roman, der ein Amok gelaufenes Gesundheitssystem thematisiert, zu bezeichnen. Dann müsste man ihn in die aktuellen Diskussionen um medial vermittelten Schönheitszwang, "Raucherrechte" (...) und was nicht alles stellen. Man müsste sich fragen, ob Fettleber und Raucherlunge als gesellschaftlicher Entwurf ähnlich konstruktiv sind wie beispielsweise Gedankenfreiheit oder Emanzipation, an denen sich frühere Dystopien abarbeiteten. Und man könnte dann darüber sinnieren, dass jede Zeit eben ihre eigenen Ziele hat, für die sich der Kampf zu lohnen scheint. (Wobei Zeh mit Baumhausbauen, Bauchwehkriegen vom Kirschenessen und Vogeldreck im Haar doch einige recht altbackene Vorstellungen serviert.) - Aber dafür müsste "Corpus Delicti" die erdachte Welt wesentlich detaillierter und plausibler beschreiben - alleine schon das unerklärte weil unerklärbare Verschwinden aller Krankheiten - inklusive der unverwüstlichen Erkältung - steht dem entgegen. Viel eher nutzt Zeh den Anschein eines Science Fiction-Szenarios, um den Konflikt zwischen Individuum und System und den Kampf um die Definitionsmacht darüber, was privat sei, zu thematisieren. Was ja auch nicht uninteressant ist, immerhin.

Coverfoto: Schöffling

Pamela Freeman: "Die Prophezeiung der Steine"

Broschiert, 571 Seiten, € 12,40, Goldmann 2009.

Als hätte jemand eine Dose aufgemacht: Nach Sara Douglass, Jennifer Fallon und Trudi Canavan ist schon die nächste Fantasy-Autorin aus Australien auf dem Markt. (Trotz ihres Hintergrunds lässt sich witzigerweise auch bei Freemans Land der Elf Domänen konstatieren, dass die kalten Regionen im Norden liegen: Archetypen überwiegen offenbar immer noch die kurze Historie des eigenen Heimatlandes.)

Den gesellschaftlichen Hintergrund von "Prophezeiung der Steine" ("Blood Ties") bildet eine Invasion, die vor 1.000 Jahren stattgefunden hat: Mit Actons Leuten drang ein blondes, blauäugiges Volk ins Land derer vom alten Blut ein, die sich nie als Einheit wahrnahmen, bis es zu spät war. Das Land wurde in elf von Kriegsherren regierte Domänen aufgeteilt und die Urbevölkerung großteils massakriert - ihre Reste ziehen nun als allseits verachtete Wanderer durch die Gegend, die sich mit den üblichen Erwerbsmöglichkeiten fahrenden Volks durchschlagen müssen. Drei junge Wanderer, deren Wege sich erst am Ende des Romans kreuzen werden, sind die Hauptfiguren: Erstens die naturverbundene und wilde Bramble, die es zur Pferdebändigerin und Star-Reiterin bringt; nachdem ihr unter mysteriösen Umständen die Flucht vor den Häschern eines Kriegsherrn gelungen ist, wird ihr in einer Steindeutung mitgeteilt, nur ihr Körper sei entkommen - ihre Seele aber tot. Zweitens Ash, der von der skrupellosen Leiterin einer städtischen "Schutzwache" wider Willen zum Mörder ausgebildet wird; ihm wird verkündet, er laufe Gefahr seine Seele zu verlieren. Und schließlich Saker: Ein gelernter Zauberer, der alles daran setzt, das Unrecht, das sein Volk erlitten hat, zu rächen. Er sucht die einstigen Schlachtfelder auf, um aus den Gebeinen der Gefallenen eine Geisterarmee zu erschaffen - während einer der Kriegsherren seinerseits die bestehende Ordnung stürzen möchte.

Freeman wechselt beständig zwischen den Lebenswegen Brambles, Ashs sowie (in kürzeren Kapiteln als bei den beiden eigentlichen ProtagonistInnen) Sakers. Dazwischen aber - eine durchaus ungewöhnliche Idee - schieben sich immer wieder Einzelkapitel, in denen Nebenfiguren aus dem Strom der Haupterzählung heraustreten und ihre persönliche Geschichte erzählen: Dies kann den Charakter einer elaborierten Fußnote haben, um Hintergrundwissen über das Leben in den Elf Domänen einzubringen, dies kann auch eine neue Perspektive auf ein gerade geschildertes Geschehen eröffnen - in jedem Fall bereichert es die Erzählung. Zumeist sind diese Episoden mit einer Orakeldeutung verbunden - denn der Roman dreht sich nicht, wie es der Titel vielleicht vermuten ließe, um die eine, das Schicksal der Welt betreffende, Prophezeiung der Steine, sondern um einen alltäglich praktizierten Tarot-ähnlichen Vorgang, von dem sich die BewohnerInnen der Domänen Hilfestellung erwarten. Doch ist der Wurf der Steine ein zweischneidiges Schwert: Wie viel unserer Zukunft erfüllt sich erst durch diese Wahrsagerei? Wie viel davon lassen wir geschehen, weil die Steine uns eine Zukunft geben, die es zu erfüllen gilt? sinniert eine Steinedeuterin über das Wesen des in der Fantasy so gerne verwendeten und hier einmal variierten Motivs einer vom Schicksal vorherbestimmten Zukunft.

"Die Prophezeiung der Steine" ist keine Fantasy der Völkerschlachten und magischen Weltenbeben, macht dies durch die glaubwürdige Charakterisierung der Haupt- und Nebenfiguren aber mehr als wett. Wenn man nach einem Schwachpunkt sucht: Die Handlungslinie um Bramble versackt zwischenzeitlich etwas und dreht sich zu lange um die Wettrennen, die sie mit ihrem Rotschimmel gewinnt. Das ist eher für LeserInnen von Pferderomanen interessant und vielleicht ein Erbe aus der Zeit, als Pamela Freeman noch Jugendbücher schrieb - was letztlich aber nur ein kleiner Abstrich bleibt. Insgesamt macht die "Prophezeiung" - Teil 1 einer "Das Land der Seher" betitelten Trilogie - durchaus Appetit, die weiteren Geschehnisse mitzuverfolgen.

Coverfoto: Goldmann

Jeff VanderMeer: "Ein Herz für Lukretia"

Broschiert, 288 Seiten, € 20,50, Shayol 2007.

Zwei monströse, den Geist verwirrende Städte stehen im Zentrum des Schaffens von Jeff VanderMeer, beide sprengen herkömmliche Genre-Grenzen: Zum einen Ambra, das oberflächlich betrachtet irgendwo zwischen Fantasy und Steampunk anzusiedeln wäre und das der US-Autor zuletzt in "Shriek" besuchte. Zum anderen das düstere Veniss, in dem Science Fiction und Horror miteinander verschmelzen. Der Roman "Veniss Underground" erschien 2003 - einige Erzählungen aus der dahinsiechenden Welt von Veniss sind auch in dieser Sammlung enthalten ... deren Beiträge ungewöhnlicherweise im Rahmen eines "Praxisprojektes Literaturübersetzung" ins Deutsche übertragen wurden. Was offenbar gar keine schlechte Idee war: 26 TeilnehmerInnen für 23 Beiträge - da scheint sich jeder ausreichend auf sein Stück konzentriert zu haben, sodass VanderMeers atmosphärischer Stil auch in unsere Sprache herübergerettet werden konnte.

Dass VanderMeer sich diesen einzigartigen Stil erst im Lauf der Jahre erarbeitet hat, zeigt der Vergleich zwischen Erzählungen aus den frühen 90er Jahren und denen der Gegenwart: Erstere sind noch sehr straight erzählt, es wird nicht zwischen verschiedenen Ebenen gewechselt und das Übernatürliche oder Unheimliche tritt erst am Ende in Erscheinung ("Fliegen ist die einzige Flucht", "Die Antwort des Königs"). Kindheits- und Reiseerinnerungen spielen in solchen zwischen Magic Realism und historischen Stoffen angesiedelten Geschichten eine wichtige Rolle - auch im hier erstveröffentlichten brillanten "Errata", das schon ganz andere Stückeln spielt: VanderMeer macht sich selbst zum Protagonisten einer wahnhaften Episode, in der er von den Herausgebern des SF-Magazins "Argosy" an den Baikalsee geschickt wird, um Korrekturen an den Werken anderer Autoren vorzunehmen (Gelegenheit für ein paar Seitenhiebe) und selbst etwas zu schreiben. Sein aktuelles Erleben in einer überschwemmten Wohnanlage, in der er zwischen Robben und einem entlaufenen Zirkuspinguin haust, und das Warten auf einen ominösen Killer fließen immer stärker in seine "Errata"-Korrekturen ein, die Realität gerinnt zu einem seltsamen Traum. VanderMeer schafft damit das Kunststück einer in sich perfekt geschlossenen Geschichte, die dennoch unzählige Fragen offen lässt.

Auffällig oft geht es um einen Akt der Befreiung, zum Beispiel in drei Erzählungen, die alle mit "Das andere Leben des ..."  betitelt sind. Deren biedere Protagonisten (ein Briefmarkensammler, ein Bibliothekar und ein Buchhändler) erkennen jeweils einen Teil der Über-Realität, der anderen Menschen verborgen bleibt, und setzen sich daraufhin aus ihrem bisherigen Leben ab. - "Das geheime Leben" verzichtet auf eine Hauptfigur und kreist um die Belegschaft eines vierstöckigen Firmengebäudes, das eine zerfallende Zivilisation widerzuspiegeln scheint, in dem sich Todesfälle und Verwandlungen ereignen und in dem sich ein eigenes Ökosystem zu entfalten beginnt. Wie schon in "Errata" erklärt VanderMeer im Nachwort den Ursprung einiger Motive der Erzählung - auch ohne diese "Traumdeutung" beeindruckt "Das geheime Leben" aber mit seiner kafkaesken Stimmung. - Und auch in der älteren Erzählung "Greensleeves" steht ein surreales Gebäude im Mittelpunkt: Eine Bibliothek, in der Wandbilder sprechen und Computer ein Eigenleben führen, und in der die Hauptfigur diesmal den Absprung verpasst: Die Bibliothekarin Mary, die sich nicht nur damit abfinden muss, dass eine ganze Etage der Bücherei zum Hoheitsgebiet einer Kolonie von Obdachlosen wurde ... sondern auch damit, dass ein unbekannter Besucher mit ihr zwischen den Regalen auf die Jagd nach einem ponygroßen Frosch geht.

Am beeindruckendsten bleiben aber die "Veniss"-Geschichten: "Detektive und Kadaver", "Balzacs Schlacht" und "Ein Herz für Lukretia". Sie schildern verschiedene Phasen einer düsteren Zukunft, in der der menschliche Genpool zunehmend Mischlinge und Sonderbare hervorbringt, während der ummauerten Stadt Veniss der Untergang droht. Nach dieser Ära sind die übriggebliebenen Menschen auf wenige Horte zurückgedrängt, die von Armeen genetisch konstruierter Wesen wie den makabren Fleischhunden (Chimären aus halbintelligenten Tieren und den Köpfen verschleppter Menschen) attackiert werden. - Das mögliche Ende dieser Zeitlinie beschreiben die beiden Erzählungen "Die Stadt" und "Drei Tage in einer Grenzstadt": In einer alten, ausgelaugten Welt geistert durch die Köpfe der letzten Menschen die Vorstellung von der Stadt: eine Halluzination, ein Hologramm, eine Erinnerung an die verlorene Zivilisation oder eine Wunschprojektion ... niemand könnte es sagen. VanderMeer selbst schreibt dazu: Ich denke, es ist wichtig, ab und zu etwas zu schreiben, was andere als "prätentiösen Mist" bezeichnen würden.

... kein Problem. Inhaltsbeschreibungen können einem Autor mit derart fantastischem Stil ohnehin nicht gerecht werden. Große Empfehlung!

Coverfoto: Shayol

Gary Gibson: "Lichtkrieg"

Broschiert, 605 Seiten, € 9,20, Heyne 2009.

"Lichtkrieg" ist die Geschichte einer Self-fulfilling prophecy - zumindest aus der Sicht eines außerirdischen Shoal, der sich den Namen "Der-mit-tierischen-Fäkalien-handelt" gegeben hat; einfach nur weil er die indignierten Reaktionen auf seine Selbstbezeichnung amüsant findet. Als einzige Inhaber eines Überlichtantriebs sind die aquatisch lebenden Shoal die Herren der Galaxis - hinter den Kulissen freilich machen sie einen weit weniger souveränen Eindruck (was leider nur in einem Kapitel kurz gestreift wird). Wenn die über Generationen hinweg gezüchteten Träumer der Shoal in ihren Visionen bestimmte Orte und Personen als entscheidend für künftige Entwicklungen erkennen, setzt sich der Fäkalien-Händler auf deren Spur. Er will sie beobachten und gegebenenfalls korrigierend eingreifen - letztlich wird offenbleiben, ob es nicht überhaupt erst seine teilnehmende Beobachtung ist, die den Verlauf der Dinge in Gang setzt.

Eine Menschenfrau mit dem coolen Namen Dakota Merrick ist sein aktuelles Zielobjekt (und die eigentliche Hauptfigur des Romans): Pilotin und Maschinenkopf vom Kolonialplaneten Bellhaven; in sich trägt sie Ghost-Implantate, ein Interface-System, das einst die technologische Zukunft zu sein schien, nun aber verpönt ist. Der Grund dafür wird in einigen Rückblende-Kapiteln geschildert: Wo auch immer Menschen leben, scheinen Bürgerkriege an der Tagesordnung zu stehen - auf Kolonialplaneten ebenso wie in den Menschenhabitaten an Bord der riesigen Shoal-Kernschiffe, auf denen man huckepack durch die Milchstraße reist. Einer Bürgerkriegspartei gelang es Maschinenköpfe fernzusteuern: Die psychisch Vergewaltigten lösten ein Massaker aus, und Dakota stand damals in der ersten Reihe. - Nun wird sie für eine Geheimmission engagiert, mit der Senator Gregor Arbenz, der der reaktionären Freistaatler-Partei auf einem weiteren konfliktgeladenen Planeten vorsteht, etwas Besonderes bergen will: das Wrack eines uralten überlichtschnellen Raumschiffs, das die Abhängigkeit der Menschheit vom Transportsystem der Shoal schlagartig beenden würde. Dass der Roman letztlich auf dem Prometheus-Motiv fußt, macht schon sein Originaltitel "Stealing Light" klar.

Vorneweg: "Lichtkrieg" beeindruckt mit einem gelungenen "Teil 3" (= die letzten 50 Seiten) und einem großartigen Schluss (= die letzten drei Absätze), der nicht nur den Bogen zu den Bildern des Anfangs zurückschlägt, sondern in seiner Verdichtung selbst für eine Kurzgeschichte funktionieren würde. Kein Wunder: Es ist die einzige Stelle im Roman, an der das Geschehen nicht direkt ausgesprochen wird und trotzdem (buchstäblich) sonnenklar ist, was sich in weiterer Folge ereignen wird. Ansonsten hat Gibson einen Hang zum übertrieben Expliziten: Jedes Gefühl, das man schon aus den Reaktionen der Figuren ableiten kann, wird noch einmal extra beim Namen genannt, jeder Grundkonflikt - zum Beispiel die drohende Rache der Shoal für den beabsichtigten Patent-Klau - mehrfach durchgekaut. Auch wird das Geschehen eher getreulich wiedergegeben als in Bilder und Szenen aufgelöst, die sich der Leser selbst zusammensetzen kann. Freiräume zum Denken braucht man aber, um gefesselt zu sein - das ist es, was den Unterschied zwischen spannend und packend bzw. zwischen gutem und durchschnittlichem Stil ausmachen kann.

Der Schotte Gary Gibson hat bislang zwei Einzelromane geschrieben und sich nun mit "Stealing Light" an den Beginn eines Zyklus gewagt. Diesen Quantitätssprung merkt man dem Buch auch an: Zum einen wartet es mit einer Fülle an Ideen auf, die der Welt des menschlichen Konsortiums räumliche und zeitliche Tiefe (sowie auch ein paar skurrile Randphänomene wie eine robotische Priesterschaft) verleihen. Auch werden einige interessante Motive eingeführt: Von den manipulativen Umtrieben der Shoal, die mitunter an Larry Nivens Puppenspieler erinnern, bis zum verkorksten Lebenslauf Dakota Merricks, die von einer Fremdbestimmung in die nächste stolpert und immer wieder zum Sündenbock für Katastrophen gemacht wird, die sie gar nicht verursacht hat. - Der Aufbau des Romans zeigt aber auch, dass sich Gibson mit dem Großformat noch ein wenig überhoben hat. Die Kapitel mit Dakotas Erinnerungssplittern sind eher erratisch gesetzt, außerdem flacht der Handlungsbogen exakt in der Mitte, wenn das Zielsystem erreicht ist, deutlich ab: Es folgt in Form des Gerangels um das Wrack jede Menge Action um der Action willen, ohne dass Entscheidendes geschähe - bis in besagtem Teil 3 mit seinen Hard SF-Passagen wieder echte Bewegung aufkommt. Dass Gibson, wie im Klappentext zu lesen, die Space Opera in eine neue Dimension katapultierte, lässt sich also nicht sagen - "Lichtkrieg" ist eine durchschnittliche Space Opera mit einigen guten Ideen und ebenso mit einigen schrifstellerischen Schwächen. Und, wie gesagt, mit einem formidablen Schluss.

Soweit für diesmal. Für die nächste Rundschau ziehen wir Schuhgröße zweiundvierzigtausendeinhalb an und wandeln in den Fußstapfen Godzillas. Außerdem - rechtzeitiger Import vorausgesetzt - ist dann vielleicht auch schon der heurige "Nebula"-Preisträger mit dabei, der demnächst bekannt gegeben wird. (Josefson)

Coverfoto: Heyne