Kraut, Frühlingszwiebeln und Zitronen gibt der Müll eines Supermarktes in Wien her.

Foto: derStandard.at

Was noch zum Verzehr geeignet ist, wird aus dem Container gefischt und mit nach Hause genommen.

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Vor allem Bananen landen oft in der Bio-Tonne, wenn sie braun werden.

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Paprika, Tomaten - besonders bei Obst und Gemüse werden die "Mülltaucher" häufig fündig.

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Brot im Überfluss: Bis zu einem Viertel aller produzierten Backwaren werden laut der Universität für Bodenkultur (BOKU) nicht gegessen.

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Zwei aufgeschreckte Gesichter drehen sich reflexartig um, als die Tür zum Müllraum aufgeht. Entwarnung, es war nur Michael*, ein Kumpel. Die Köpfe der beiden verschwinden wieder in den schwarzen Müllcontainern eines Supermarktes. Irgendwo in Wien, mitten in der Nacht. Nach der Reihe fischen die beiden Gestalten Lebensmittel aus den Containern: Paprika, Äpfel, ganze Netze mit Zucchini. Ob sie sich das Essen nicht auch so leisten könnten? „Was heißt leisten? Ja schon, man könnte ja auch von zwei Euro am Tag leben", sagt einer. Das was man hier im Müll finde, sei oft viel hochwertiger, als das, was man sich selbst leisten könnte. Die beiden kramen weiter, stecken ihre Köpfe in die Container, hüllen sich in Schweigen.

Müll "klauen" ist nicht strafbar

In der Nacht ist die beste Zeit zum „Dumpstern" oder „Containern", wie das „Mülltauchen" auch genannt wird. Während die Konsumwelt schlummert, brechen Typen wie Michael auf, ausgerüstet mit großen Rucksäcken, Plastikhandschuhen und Stirnlampen. Der 20-Jährige ernährt sich nicht aus Geldnot aus dem Müll. Für ihn steckt mehr dahinter, etwa die Kritik am bestehenden System, an der Konsumwelt, der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft, auch am Verzehr von tierischen Produkten. Diese Ideologie heißt „Freegan". „Free" steht dabei für frei oder kostenlos, „vegan" für das Ablehnen von Tierprodukten. Lebensmittel aus dem Müll zu fischen ist übrigens nicht strafbar. „Müll ist eine herrenlose Sache", erklärt Gerhard Jarosch, Sprecher der Staatsanwaltschaft Wien gegenüber derStandard.at. Wenn dabei allerdings ein Schloss aufgebrochen würde, falle dies unter Sachbeschädigung.

Michael, kurz geschorene Haare, Kapuzenpulli, will bald wieder studieren. Seit eineinhalb Jahren ernährt er sich fast ausschließlich aus dem Müll, ab und zu geht er in Bioläden. „Ich könnte kein normales Geschäft mehr betreten", sagt er. „Für so etwas wie Lebensmittel kann man keine großen Konzerne verantwortlich machen, die rein geldorientiert handeln." Dadurch würden die Menschen klassiert, jeder könne nur dort einkaufen, wo er es sich leisten könne. „Viele Leute rackern sich ab, um sich mit ihrem wenigen Geld Lebensmittel kaufen zu können, dabei geht es rein um die Profitmaximierung der Konzerne", sagt der „Freeganer". Einmal pro Woche trifft er sich mit Gleichgesinnten, um gemeinsam loszuziehen und den Müll von Supermärkten in ganz Wien zu durchstöbern. Außerdem wird wöchentlich gemeinsam gekocht und zu Abend gegessen.

In Wien ist am Wochenende ein Fall ans Tageslicht gekommen, bei dem die Angestellte einer externen Reinigungsfirma Waschmittel in die Biotonne des Diskonters Hofer geschüttet haben soll. Eine Gefahr für "Freeganer" und Obdachlose - nach Angaben der Supermarktkette aber ein einmaliger Vorfall.  Auch "Freeganer" Michael hat in seinem Bekanntenkreis von Rattengift in der Biotonne gehört. Jedenfalls, so erzählt er, würden Milchprodukte oft zerdrückt oder Lebensmittel mit Kaffeesud überschüttet, um sie für "Freeganer" unbrauchbar zu machen. "Man sieht, dass es absichtlich gemacht wird", sagt Michael.

Ein voller Rucksack in 15 Minuten

Dieselbe Nacht, ein anderer Supermarkt. Nicht mal 15 Minuten, dann ist der 80-Liter-Rucksack voll gepackt mit weggeworfenem Essen: Bananen, Kraut, Tomaten, Frühlingszwiebel und Paprika. „Ich lebe sicher reichhaltiger als 50 Prozent der Österreicher", ist Michael überzeugt, viele Leute könnten sich nicht mal Obst leisten. Er kramt ein Netz Bio-Zitronen und ein paar lose Orangen aus dem Container, ein Joghurt nach dem anderen wandert in seinen Rucksack. Weil er als Veganer keine Tierprodukte esse, gebe er die Joghurts an Bekannte weiter. Bis zu 45 Kilogramm Lebensmittel werfen Supermarktfilialen pro Tag weg, ohne den Versuch einer Verwertung zu unternehmen, wie eine Studie der Universität für Bodenkultur (BOKU) aufzeigt. Original verpackte oder angebrochene Lebensmittel machen demnach bis zu zwölf Prozent des Mülls aus. Insgesamt landen in Österreich jährlich 166.000 Tonnen Lebensmittel im Restmüll.

Die Brottonne im Müllraum ist voll gestopft mir original verpackten Semmeln, Baguettes, Krapfen und Mehlspeisen. Laut Peter Lechner, Leiter des Instituts für Abfallwirtschaft der BOKU Wien, würden bis zu einem Viertel aller produzierten Backwaren nicht gegessen. Ein Teil lande im Müll oder würde anderweitig entsorgt, etwa in Biogasanlagen oder als Futtermittel. Vergleichsweise gering sei der Anteil, der an karitative Organisationen weitergegeben werde.

Einkaufsgemeinschaft als Alternative

Gibt es überhaupt einen Ausweg, nicht auf der Konsumwelle mitschwimmen zu müssen? Ja, den gibt es, sagt Michael. Der erste Schritt sei ein bewusster Konsum, der zweite, dass man sich zusammentut, sich organisiert. In Wien zum Beispiel mit der Einkaufsgemeinschaft „Bioparadeis". Die rund 40 Mitglieder des im Februar 2007 gegründeten Vereins kaufen gemeinsam und somit zu günstigen Konditionen direkt bei Produzenten in Wien und Niederösterreich ein. Auch Marmelade oder Brot aus Eigenproduktion werden angeboten. Es gehe dabei nicht nur um den Kostenfaktor, sondern vielmehr um Kritik an der gängigen Lebensmittelproduktion und am Handelssystem. Im Vordergrund steht, die Anonymität zwischen Erzeugern und Verbrauchern aufzuheben, die Transportwege kurz zu halten und die regionale Lebensmittelherstellung zu fördern. „Bei uns landen noch essbare Waren erst gar nicht im Müll, zum Beispiel indem wir leicht verderbliche Waren nur auf Bestellung kaufen", erklärt Mitorganisator Dominik Dax gegenüber derStandard.at.

Traum: Am Land selbst versorgen

Michael jedenfalls möchte „ohne Geldzwang leben". Wie fremd ihm die herrschende Konsumwelt ist, zeigt sich bei einem Treffen im Kaffeehaus. „Für mich nichts, danke", sagt er bei der Bestellung. Dann müsse er aber das Lokal verlassen, die Kellnerin schaut ihn unverständlich an. Der 20-Jährige versteht diese Welt nicht, will sie nicht verstehen. „Das ganze Denken ist doch am Geld orientiert." Es sei doch verrückt, sagt er, und nennt ein sehr plastisches Beispiel: Der Kunde, der im Supermarkt zu den günstigen Bananen aus Nicaragua greift, die dort von Arbeitern unter schlechten Bedingungen geerntet werden - nur um sich Geld zu sparen, für einen Urlaub in diesem Land. Michael will der Konsumwelt entfliehen, das Streben nach Wohlstand boykottieren. Sein Traum: „Auf's Land ziehen und sich selbst versorgen", am besten in einer Art Kommune. „Der Weg zum Glück ist nicht der meiste Konsum", sagt er. Für ihn steht fest: „Ich geh' sicher in keinen Supermarkt mehr." (Maria Kapeller, derStandard.at, 30.3.2009)