STANDARD: Ist die Debatte, wie steigende Gesundheitsausgaben in den Griff zu kriegen sind, in den USA genauso verfahren wie in Europa?

Teisberg: Die Diskussion hat sich in den letzten Jahren dahin verschoben, wie man den Wert, den das Gesundheitssystem erbringt, steigern kann. Michael Porter und ich haben, denke ich, eine Rolle dabei gespielt. Einsparungen sind wichtig. Aber ginge es ausschließlich um Kostenkontrolle, bräuchten wir nicht mehr als Schmerzmittel und Mitgefühl. Wirklich wichtig ist, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Das führt immer auch zu mehr Effizienz. Wenn klinische Resultate besser sind, erholen sich die Menschen schneller, sind kürzer im Spital, haben weniger Behinderungen und brauchen weniger Folgebehandlungen. In guter Gesundheit zu leben ist einfach billiger.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Gesundheitspolitik der neuen US-Regierung?

Teisberg: Ich freue mich, dass ihr Obama hohe Priorität einräumt. Überall, wo Menschen universellen Zugang zum Gesundheitswesen haben, liegen die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit niedriger als in den Vereinigten Staaten. Mehr als vierzig Millionen unversicherte Amerikaner haben keinen Zugang zu präventiver und früher Versorgung. Der einzige Zugang für wirklich alle ist die Notfallstation, also späte Versorgung in teuren Umgebungen. Die Unterversorgung im frühen Stadium treibt die Kosten in die Höhe. Wer sparen will, sollte frühe, präventive Versorgung fördern und chronische Krankheiten in frühen Stadien unter Kontrolle bringen. Fortgeschrittene Diabetes führt zu Erblindung oder Dialyse, das sind teure Krankengeschichten.

STANDARD: Was muss sich außer einer Reform der Krankenversicherung ändern?

Teisberg: Das Gesundheitssystem ist aus historischen Gründen rund um Akutversorgung aufgebaut, doch die es gibt heute viel mehr chronisch Krankheiten, deren Behandlung 80 Prozent der Ausgaben verursachen. Spitäler als Anlaufstelle sind keine ideale Lösung. Statt um die medizinischen Fachgebiete herum sollte die Versorgung um die Lebenswirklichkeit von Patienten aufgebaut sein. In multidisziplinären Teams werden Koordination und Kommunikation viel enger und besser.

Standard: Haben Sie Beispiele?

Teisberg: Das M.D. Anderson Krebszentrum in Houston, Texas, ist ein Weltklassespital ohne chirurgische Abteilung, obwohl dort natürlich ständig operiert wird. Die Ärzte dort sind organisiert nach der Krebsart, die sie behandeln. Ein anderes Beispiel ist die Cleveland Clinic, die ihre fast 2000 angestellten Ärzte von ihren klassischen Fachgebieten umstrukturiert hat und sie in 19 multidisziplinäre Gruppen einteilt.

STANDARD: Was ändert sich dadurch?

Teisberg: Das lässt sich am Beispiel der Migräne zeigen. Patienten probieren oft einen Arzt nach dem anderen, so lange, bis sich ihre Beschwerden verbessern oder sie aufgeben. In Deutschland haben wir ein Migränezentrum untersucht, in dem Patienten von einem Neurologen, einem Psychologen und einem Krankengymnasten betreut werden. Zusammen finden sie schneller heraus, was die Ursache der Kopfschmerzen ist. Der Anteil der Patienten, die wegen einer Migräneepisode mindestens sechs Tage ihrer Arbeit fernblieben, fiel von 58 Prozent auf elf Prozent. Das ist eine erstaunliche Verbesserung der Produktivität, eine erstaunliche Reduktion der Schmerzen und eine erstaunliche Vereinfachung des Prozesses aus der Sicht des Patienten. Selbst die Behandlungskosten waren letztlich niedriger.

STANDARD: Haben Sie Empfehlungen, wo gespart werden kann?

Teisberg: Mir geht es um die Hebel. Mit multidisziplinären Teams spart man Untersuchungen ein, die im fragmentierten System heute oft wiederholt durchgeführt werden. Wird die Versorgung nach Krankheiten strukturiert, verschiebt sich die Aufmerksamkeit von selbst auf frühe, präventive Versorgung und Disease-Management. Der Bedarf an teurer Akutmedizin sinkt.

STANDARD: Was ist mit den überzähligen Spitalsbetten?

Teisberg: Im Medizinbetrieb wird gerne davon ausgegangen, dass alle Behandlungen überall gleich gut durchgeführt werden. So ist es aber nicht. Klinische Resultate variieren weit stärker, als man erwartet, denn nicht alles wird überall gleich gut gemacht. Die meisten Spitäler bieten aber alles an. Qualitätsmessung und -vergleich führen aber dazu, dass Ärzte und Stationen Schwerpunkte setzen und langfristig Patienten ihren Diagnosen entsprechend weiterschicken.

STANDARD: Werden klinische Resultate richtig interpretiert?

Teisberg: Oft ist das Augenmerk auf Prozesse gerichtet, und man achtet in erster Linie darauf, ob sie eingehalten werden. Diese Untersuchungen müssen sich nicht mit der Sicht decken, die Patienten auf das System haben. Dazu gibt es eine schöne Studie aus Italien: In Norditalien halten sich Diabetespatienten und ihre Ärzte stark an Behandlungsschemata, aber tatsächliche bessere Resultate für Patienten gab es in Süditalien.

Standard: Ein Kostentreiber sind doch neue Behandlungen?

Teisberg: Die wichtigste Form von Innovation ist derzeit struktureller Art. Gehen wir über zu multidisziplinären Teams, kriegen wir auch eine andere Perspektive auf Innovation. Bisher geht es zu sehr um den Vergleich zwischen Medikament A und Medikament B. Man konzentriert sich auf Details statt auf den Behandlungsverlauf. Wir sollten die Vergleiche auf dem Level anstellen, wo es um Lösungen für den Patienten geht. (Stefan Löffler, DER STANDARD, Printausgabe, 30.3.2009)