Georges Adéagbos Installation "Die Kolonisation und die Geschichte der Kolonisierten".

Foto: Stephan Köhler

Wien - Anfang 1999 wurde bekannt gegeben, dass Okwui Enwezor die Documenta XI in Kassel leiten würde. Enwezor, aus Nigeria stammender, seit Anfang der 1980er-Jahre in New York lebender Autor und Kurator hatte nach seinem Studium der Politikwissenschaft in New Jersey 1994 gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Salah Hassan das Magazin NKA: Journal of Contemporary African Art gegründet; und daneben mit zahlreichen Ausstellungen zu vermitteln versucht, dass es eine Afrikanische Gegenwartskunst gibt, dass diese nur - in Fortführung der Kolonialgeschichte - in bewährter Art und Weise marginalisiert wird, keinen Nachhall im westlichen Kanon findet. (Parallel zu NKA hat Simon Njami von Paris aus mit dem Magazin Revue Noire wesentliche Recherchearbeit zur zeitgenössischen Kunst Afrikas am Kontinent und in der Diaspora, in Paris, London oder New York geliefert.)

"NKA", sagte Enwezor 1999 im STANDARD-Interview, "wurde gegründet, um die Beziehungen von kritischer Kunstpraxis zur Visual Culture zu untersuchen. Wir untersuchen die Beziehungen von Geschichtsschreibung und Formen des Erzählens. Am Endpunkt der faszinierenden Periode der Moderne gibt es an sehr vielen verschieden Punkten auf der ganzen Welt neue Ansätze des Erzählens." Einen dieser Ansätze konnte Georges Adéagbo am Rande der 48. Biennale von Venedig erstmals vor internationalem Publikum vorstellen. Biennale-Kurator Harald Szeemann hatte ihn eingeladen, eine Arbeit für dAPPERTutto zu entwickeln, für jenen Teil der Biennale 1999, der jenseits der Repräsentation einzelner Staaten in den Länderpavillons angesiedelt war. dAPPERTutto sollte die ganze Stadt überziehen, über 100 Künstlern Raum bieten, sich jenseits gewohnter Schauplätze unmittelbar ins Stadtleben einmischen. Natürlich hat das nur als Konzept funktioniert. Dennoch war Szeemanns Overall-Ausstellung einer der entscheidenden Schauplätze, Afrika auch medial - und in Folge am Kunstmarkt - zu positionieren.

George Adéagbos Installation zur Geschichte des Löwen von Venedig war nur für einen Tag am Campo dell Arsenale zu sehen. Die Eröffnung durch den prägenden Schweizer Kurator Johannes Gachnang geriet dann zu einem sehr intimen Moment im Biennale-Trubel.

Ein paar Dutzend Leute hatten sich versammelt, Adéagbos Erzählung zu lauschen. Dessen Methode, Materialien - so wie Kinder das tun - flächig auszubreiten, anstatt sie zu stapeln, breite, ausufernde, und vor allem offene Geschichten anzulegen, anstatt in vertikalen Stapeln eine feste Ordnung vorzulegen, die Wahrheit zu definieren, hat der 1942 in Cotonou, Benin, geborene Künstler nun auf das MAK angewandt.

Wände und Böden in der Galerie und in einzelnen Räumen der Schausammlung tragen Adéagbos Fundstücke, werden zur Folie für sein, je um Spezifika des speziellen Orts angereichertes Archiv. Das kann aus Büchern bestehen, Zeitungsausschnitten, abgelegten Gebrauchsgegenständen oder "kolonialisierten Objekten". Sowohl das Bespielen des Museumsraums selbst als auch das Einbeziehen von als "Stammeskunst" inventarisierten Objekten kommt dabei einer Wiederaneignung, einer nochmaligen Inbesitznahme gleich. Nicht zum Zweck, rückgängig zu machen, Geschichte im Nachhinein zu korrigieren, vielmehr als Aufforderung, Themen wie Religion, Krieg, Sozialismus, Sklaverei oder Kunst von der anderen Seite her zu betrachten, derart die Geborgenheit im eurozentristischen Weltbild als nur vermeintliche zu erleben.

Was etwa ist der Kabinettsschrank aus der Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem MAK jenseits seiner Position in der europäischen Kunstgeschichte? Das repräsentative Möbel kam als Geschenk der Stadt Eger an Kaiser Karl VI; in der Absicht, des Herrschers hegemoniale Absichten zu bekräftigen. Was löst die gleichrangige Positionierung eines Kruzifixes mit einer afrikanischen Skulptur oder einem Fetisch aus? Und weiter: Was haben frühe Vinyls der Original Oberkrainer damit zu tun? Was Peter Alexander oder der MAK-Katalog zur eigenen Geschichte als k. u. k. Museum für Kunst und Industrie? Und wie fügen sich dazu Objekte, die Adéagbo in Benin anfertigen lässt, Schriftbilder, die "Aneignung" umgekehrt praktizieren, sich Böcklins als "Vorbild" bedienen oder andere Heroen des Westens nach eigenem Gutdünken deuten? Und: Gibt es Archivsysteme ohne Karteikästen? (Markus Mittringer, DER STANDARD/Printausgabe, 01.04.2009)