Lehrer Thomas Bulant betreut Sorgenkinder in Favoriten - und fordert Hilfe von Psychologen und Sozialarbeitern: "Das pädagogische Repertoire der Lehrer reicht einfach nicht mehr aus. Wir stoßen an unsere Grenzen."

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David sitzt in der Klasse und ist trotzdem nicht da. Sprechen ihn die Lehrer an, blickt er durch sie hindurch. Holen die anderen Kinder die Hefte heraus, kritzelt er geistesabwesend auf einem Schmierzettel herum. Manchmal greift der Zehnjährige auch zum Zirkel. Damit ritzt er sich dann die Haut seiner Hand auf.

Favoritener Sorgenkinder

Der zierliche David* ist nicht das einzige Sorgenkind in der ersten Klasse der Hauptschule am Josef-Enslein-Platz im Wiener Bezirk Favoriten. Ihm gegenüber sitzt zum Beispiel Martin, der Bub mit den immer schweren Augenlidern; er riecht wie ein Kettenraucher und erzählt von Filmen, die nur nach Mitternacht laufen. Vorne rechts plagt sich der gebürtige Albaner Ermir ab, dem zu Hause keiner helfen kann - der Vater komme spät abends von der Arbeit heim, erzählt er, verbiete der Mutter aber, Deutsch zu lernen. Kopfzerbrechen bereitet auch der pummelige Toni mit der bizarren Handschrift. Ohne Vorwarnung springt er manchmal vom Sessel und schlägt Mitschüler auf den Rücken.

"Da schlummert etwas in dem Buben" , sagt der Mathematiklehrer Thomas Bulant: "Doch wir können ihm nicht helfen. Unsere Kompetenz endet am Schultürl." 

Bulant, Gewerkschafter und Sozialdemokrat, ist keiner dieser "Auspufflehrer" , die nach der letzten Einheit fluchtartig das Weite suchen. Er kennt die Geschichten seiner Schützlinge genau, lässt bei den Eltern nicht locker. Im Klassenzimmer macht der Mittvierziger viele Meter, spaziert zwischen den Bänken herum, schaut den Schülern über die Schulter. Moderne Pädagogik ist an seiner Schule gefragt, die Lehrer unterrichten im Team, fördern die Kinder in Leistungsgruppen - und fühlen sich trotzdem immer öfter hilflos. Bulant: "Wir stoßen einfach an unsere Grenzen." 

Warum, das hat die Schule vor ein paar Wochen dem Landesschulinspektor geschrieben. Akribisch haben die Lehrer aufgelistet, wie viele der 380 Kinder durch beunruhigendes Verhalten auffallen, erzählt Bulant - pro Jahrgang kamen sie auf zweistellige Zahlen. Von "Selbstdarstellungsneurosen" ist da die Rede, von "Heulattacken" , "Aggressionspotenzial" und "unvorhersehbaren Zornausbrüchen" . Sie sei froh, dass die Favoritener Polizei Beamtinnen abstelle, um mit Schülern über Gewalt zu sprechen, sagt die Direktorin Anna Zeiml. Früher sei eine Rauferei zu Ende gewesen, wenn ein Bursch abgeklopft habe. Heute würden manche Kinder nachtreten, als handle es sich um ein Videospiel.

Vielleicht ist es das immer härtere Arbeitsleben, das Eltern die Energie raubt, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen. Vielleicht, wie Zeiml mutmaßt, auch der Trend, Verantwortung an Institutionen abzuschieben. Jedenfalls müssten sich Lehrer heute um eine Vielfalt an Problemen kümmern, sagt die Direktorin - wofür Schulen wie die ihre nicht annähernd gewappnet seien. "Wir bräuchten Sozialarbeiter und Psychologen" , sagt Zeiml: "Stattdessen mussten wir drastische Einsparungen hinnehmen. Das System wurde massiv heruntergefahren." 

Mehr Sorgen, weniger Geld: Mit Beginn des neuen Jahrtausends, spätestens seit Antritt der schwarz-blauen Regierung, schmolzen auch am Enslein-Platz die Budgets. Lerngruppen wurden eingeschränkt, Förderklassen aufgelassen. Im Vorjahr ging auch noch die einzige Beratungslehrerin, eine Art Krisenmanagerin, in Karenz. Ihr Ersatz hat für die Schule nur noch ein, zwei Stunden pro Woche Zeit.

"Einen gewissen Engpass" räumt der zuständige Bezirksschulinspektor Richard Felsleitner ein: "Aber das wird im Herbst korrigiert. In Wien werden 7000 Kinder von Beratungslehrern betreut - das lass ich mir nicht schlechtreden." Eher ungerührt reagiert auch Landesschulinspektor Gerhard Tuschel auf den Hilfeschrei aus Favoriten. "Lehrer haben den Reflex, schnell nach Hilfe von außen zu rufen" , sagt er: "Helfen muss man sich jedoch auch selbst." Zwar hielte Tuschel Sozialarbeiter an Schulen für sinnvoll; aber die Lehrer sollten sich auch weiterbilden, um der Herausforderungen Herr zu werden.

Volkswirtschaftliche Sabotage

Es ist Mittag, Thomas Bulant unterrichtet Musik. Mit ein paar flotten Liedern versucht er die Klasse bei Laune zu halten, doch die Kinder werden immer unruhiger. "Erbsenhirn" schimpft Schüler Lorenz seine Sitznachbarin und provoziert einen gröberen Aufruhr. Der Lehrer versucht zu schlichten: "Überleg dir mal, ob dir es gefallen würde, wenn sich alle über dich lustig machen!"
Bulant glaubt nicht, dass ihn der Bursche wirklich verstanden hat. Ihm fällt schon länger auf, dass dieser bestimmte Gefühle nicht begreifen könne - aber bereits diese Diagnose grenze an "Kurpfuscherei" , meint der Lehrer: "Dafür reicht unser pädagogisches Repertoire einfach nicht aus."

Im Vergleich zu anderen Wiener Schulen, wo die Mehrheit der Erstklassler mangels Deutschkenntnissen ihre Lehrer kaum verstehe, seien die Zustände am Ensleinplatz geradezu "paradiesisch" , betont Bulant. Aber dennoch müsse auch er in den Klassen viel Zeit in Beziehungsarbeit investieren, ehe überhaupt an vernünftigen Unterricht zu denken sei. Das Niveau an den Pflichtschulen werde deshalb zwangläufig sinken - vor allem wenn die Lehrer nun noch mehr leisten müssten. Die Pläne von Unterrichtsministerin Claudia Schmied, Lehrern zwei Stunden mehr Unterricht vorzuschreiben, bekämpft er als Gewerkschafter - Parteifreund hin oder her - leidenschaftlich, er kann die ewigen Argumenten für den Sparkurs nicht mehr hören: Die Wiener Schulbehörde verweist aufs Unterrichtsministerium, das über den geizigen Finanzminister klagt; dieser beruft sich wiederum auf die Finanzkrise oder andere höhere Mächte. "Volkswirtschaftliche Sabotage an der Zukunft" nennt das Bulant.

Dokument der Ohnmacht

Worauf der Lehrer anspielt, lässt sich bei David, dem stillen Außenseiter, erahnen. Nach einem halben Jahr umfasst sein Mitteilungsheft viele Seiten, es ist ein Dokument der Ohnmacht. Mit einem Messer ist David im Unterricht aufgetaucht, er hat Mitschüler mit Steinen beworfen und davon fantasiert, die Schule zu sprengen. Verzweifelt drängen die Lehrer die Eltern, professionelle Hilfe zu suchen. "Was soll ich denn noch machen?" , schreibt der Vater zurück: "Ihn vielleicht verprügeln?"(Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe, 1.4.2009)