Die Türkei und das Nachbarland Armenien stehen offenbar unmittelbar vor einem diplomatischen Durchbruch. Nach Berichten türkischer Zeitungen haben sich die Regierungen beider Länder darauf verständigt, in Kürze die seit 1993 geschlossene Grenze zu öffnen und wechselseitige diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Wie die Zeitungen Vatan und Hürriyet meldeten, sind beide Seiten bereit, ein Protokoll zu unterzeichnen, in dem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen angekündigt wird.

Als Vorbereitung sollen mehrere Kommissionen eingerichtet werden, die sich um die Details des Grenzmanagements und Zollfragen kümmern sollen. Außerdem soll Armenien zugestimmt haben, die von der Türkei seit langem vorgeschlagene Historikerkommission einzurichten, innerhalb deren über die "Tragödie von 1915" geredet und geforscht werden soll.

Die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich und der Streit darüber, ob dies ein Völkermord war oder nicht, sind die wichtigsten Gründe für die gespannten Beziehungen zwischen den Nachbarländern. Obwohl es innerhalb einer gemischten Kommission sicherlich noch lange Zeit nicht zu einer gemeinsamen Einschätzung der Geschichte kommen wird, hat man sich jetzt offenbar darauf geeinigt, die Klärung der Frage nicht mehr zur Vorbedingung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu machen.

Grenze 1993 geschlossen

Der 1993 ausschlaggebende Grund für die Grenzschließung war aber der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Enklave Berg-Karabach. Der Krieg endete mit der Vertreibung der Aseris aus Karabach und der Besetzung weiterer aserbaidschanischer Territorien durch Armenien. Die Türkei hatte deshalb als Alliierter der Aserbaidschaner die Grenze geschlossen. Jetzt will die Türkei einen Plan für die Lösung der Karabach-Frage vorlegen und aktiv zwischen Aserbaidschan und Armenien vermitteln.

Strittig ist noch, wann die Einigung verkündet werden soll. Die Türkei möchte möglichst bald an die Öffentlichkeit, die armenische Regierung offenbar lieber noch abwarten. Der Hintergrund dafür ist der Besuch von US-Präsident Barak Obama am kommenden Montag in der Türkei. Ankara will verhindern, dass Obama offiziell von einem Völkermord spricht, während die armenische Lobby in den USA sich genau dafür einsetzt. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 1.4.2009)