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Kandinsky über Kubin (Bild): "Wie können Sie nur eine Seite des ‚Lebens‘ fühlen? Oder besser: warum sehen Sie nur ‚Die andere Seite‘? In diesem famosen Buch haben Sie tausend Mal Recht. Sie müssen aber Ihrer Wachspuppe den Kopf abschlagen u. mit Füßen zertreten zu Staub."
"Sind wir denn, frage ich, nicht mehr als dieses Knochengestell, umspannt von Fleischsträngen? Als dieser Korb und Sack, gefüllt mit zuckenden, pumpenden und saugenden Organen, wie ein volles Nest nackter Seetiere ineinandergeschmiegt? Wäre das alles?" (Alfred Kubin)
"Ich glaube, Max Dauthendey, der mit Malern Umgang hatte, entdeckte den schmächtigen, immer schwarzgekleideten Jüngling mit dem blassen Knabengesicht, das sich zur Verdüsterung ein bisschen anstrengte und scheu tat wie ein junger Wolf, den man aus der Grube ans Licht gezogen hat. Er brachte ihn und eine große Mappe, besser eine große Mappe mit dem zierlich-kleinen Kubin, der so tat, nichts eigentlich dafür zu können, dass er zeichne, sondern unter Zwängen zu stehen, die ihm die Hand führten." (Franz Blei)
"Freilich war dieses gotisch düstere Gotteshaus mit seinem Prunk immer eine erste, furchtgebietende Größe, doch in meinem kleinen und dabei lebhaft katholischen Heimatdorf fand sich für uns Schuljungen auch wieder ein ganz intim behagliches Verhältnis zu ihr" , lese ich in der autobiografischen Schrift von Alfred Kubin und erinnere mich dabei an die Kirche meines Heimatdorfes in Kamering, in Kärnten, an einen Gottesdienst an einem kalten Dezembertag, an eine Nische in der Kirchenmauer, rechts vom Hauptaltar, in der hinter einem verglasten Eisentürchen mit einem Eisenkreuz ein kleines Keramiköfchen stand, auf das wir jeden Morgen um sechs Uhr, in der Zeit der Rorate, eine kleine Karaffe mit kaltem Messwein und eine zweite mit kaltem Wasser stellten, um während der Messe, wenige Minuten vor der Wandlung, einen Stromschalter an der Mauer zu betätigen und dann zu warten, bis Messwein und Wasser in den Glaskaraffen warm wurden, aber an jenem Wintermorgen schalteten wir den Ofen zu spät aus, die mit Messwein und Wasser gefüllten Karaffen in der abgeschlossenen Mauernische platzten, und harzig und verbrannt riechend rann der Messwein zischend über die Keramikoberfläche und über die rotglühenden Drähte des Öfchens und aus der verschlossenen Nische die Kirchenmauer hinunter auf den Boden, sodass der Pfarrer, der die bereits in zwei Teilen zerbrochene große Hostie in den Händen hielt, erschrak und sich schließlich, streng schauend, nach seinen Ministranten umdrehte, während schon der Mesner zu Hilfe eilte, wir die Scherben mit einem Bartwisch aus der heißen Nische räumten, in der Sakristei Messwein und Wasser in neue Karaffen füllten, der Ritus der Wandlung unterbrochen war und der Pfarrer, in Gebete versunken, mit dem zerbrochenen Leib Christi in der Hand, warten musste, bis der frischeingefüllte Messwein aufgewärmt war, um schließlich den unterbrochenen Gottesdienst fortzusetzen.
"Doch durchtränkte mich in meinen Knabenjahren der allgemeine Hauch des religiösen Geheimnisses so stark, dass diese Jugendstimmungen in mir immer wieder lebendig werden, wenn ich eine schöne, weihrauchduftende Kirche betrete. – Kirche und Schule legten der kindlichen Bestie unzerreißbare Zäume an." Intimes und behagliches Verhältnis, um die Worte von Alfred Kubin zu gebrauchen, spürten wir auch, wenn wir Ministranten uns, am Karfreitag, zur Stunde der leibhaftigen Kreuzigung, um Punkt fünfzehn Uhr, neben dem Pfarrer mit unseren rot-weißen, spitzenverzierten Ministrantenkleidern für ein paar Andachtsminuten, das Gesicht hinter den Händen versteckend, auf den kalten Kirchenboden legen durften – er hat es uns nicht aufgetragen, ich als Erzministrant bin seinem Beispiel gefolgt und die anderen Ministranten meinem -, bevor wir wieder aufstanden und ich weiterhin die Bewegungen des Pfarrers verfolgte und imitierte im Angesicht des frisch Gekreuzigten.
"Überhaupt die Kirche, unsre uralte Zeller Kirche! Wie viele unzählige Male nahm dieses dämmrige Gewölbe meine Seufzer, meine guten Vorsätze und meine Wünsche entgegen, bald schweigend abweisend, bald auch wieder in meiner Einbildungskraft wie gewährend; und oft hat es mein junges Herz in mystischer Erhebung und wahrhafter Einkehr gesehen."
Und wenn ich in Klagenfurt die nach Weihrauch duftende Stadtpfarrkirche betrete und – wie immer – schnurstracks auf einen Nebenaltar zugehe, wo in einer Gruft der Dichter Julien Green begraben liegt, stelle ich mir seinen verfallenden Körper unter der schweren Marmorplatte vor, und wenn ich, um Worte ringend, ihm immer wieder auf den Fersen bin, sehe ich immer auch seine erzkatholische Mutter vor mir, die an einem Abend, als der halbwüchsige Julien die Hände unter der Bettdecke hatte, mit gezücktem Messer in der Hand die Bettdecke wegriss und rief: "Julien! Wenn du das noch einmal machst!"
Dieser Julien Green stand einmal in einer Ausstellung der Wiener Albertina vor dem Bild Der Todessprung von Alfred Kubin und vermerkte in seinem Tagebuch vom 27.Oktober 1977: "Da ist allem, was lebt, der Tod auf den Fersen. Manche Bilder sind so monströs, dass man, selbst wenn man wieder draußen ist, noch besessen ist von all diesen Greueln. Ein Mann stürzt wie ein Pfeil in einen struppigen schwarzen Abgrund, der nichts anderes ist als das weibliche Geschlecht zwischen zwei Schenkeln, dick wie Berge, die auseinandertreten, um die Beute zu verschlingen." Man sieht auf der Federzeichnung Der Todessprung groß im Vordergrund den Torso eines weiblichen Unterkörpers, die auseinandergespreizten, üppigen Oberschenkel einer Frau, die offene, dunkle Scheide als Schwarz-Weiß-Bild mit grauschwarzen Schamlippen, umgeben von dunklen Schamhaaren. Vom Kopf der rücklings auf dem Boden liegenden Frau sieht man nur den unteren Teil des Doppelkinns und den Hals ohne Kehlkopf. Bauch, die an den Rändern hervorstehenden Brustkorbrippen und die höherstehenden Brüste sind als Schneefeld gezeichnet. Zwischen den auseinandergebreiteten Oberschenkeln, "als Pfeil" , um die Worte von Green zu gebrauchen, ein mit ausgestreckten Armen und Beinen auf die geöffnete Scheide kopfüber zuhechtender, winziger, zündholzdünner Mann, an dessen Hüften man auch das waagrecht wegstehende männliche Geschlechtsteil sieht.
Und wenn ich mich zurücklehne und die Zeichnung Der Todessprung aus einem zehn, zwanzig Zentimeter größeren Abstand sehe, glaube ich, im Augenwinkel meiner leichten Kurzsichtigkeit an den Frauenoberschenkeln die hochlaufenden Striche dieser Federzeichnung als fliehende Ratten zu sehen, Ratten, die auf den Berg der angewinkelten Oberschenkel hinauflaufen und sich auf den in der Zeichnung unsichtbaren Kniescheiben auftürmen, übereinandersteigend, sich aneinanderkrallen, bis sie wieder gemeinsam über die Schienbeine hinunterrutschen zu den Füßen und, ihre Schwänze hin und her schlagend, an den Frauenzehen knabbern, Ratten, die immer wieder in den Zeichnungen von Alfred Kubin vorkommen.
"Einige meiner Kameraden waren Ministranten; ich zog mit am Seil der großen Glocke, trat den Blasebalg der Orgel, wirkte eifrig als Sänger und langweilte mich auch sehr oft bei den endlosen Zeremonien." Bei dieser Passage aus den autobiografischen Schriften von Kubin erinnerte ich mich an einen Frühlingsnachmittag, als an der Friedhofsmauer bereits die gelben Himmelsschlüssel, die violetten Krokusse und die Veilchen blühten, als die Kirchentür sperrangelweit offen stand, die Mesnerin den Frühjahrsputz erledigte, den Ratten- und Mäusekot zusammenkehrte, den Steinboden aufwischte, die Heiligenfiguren mit einem Staubwedel, der aus einem dicken Büschel Pfauenfedern bestand – wir hatten zwei Pfauen im Dorf -, sorgfältig entstaubte, den Heiligenschein auf den Köpfen der Heiligenfiguren, die Kniescheiben und die Achseln der Heiligengestalten, und wir uns eingeschlichen hatten mit unseren selbstgemachten Steinschleudern – Astgabeln von den Haselnusssträuchern neben dem Friedhofsabfallhaufen, den Lederfleck aus getrockneten Speckschwarten, die wir mit Schweinefett geschmeidig machten – und Jagd machten auf die Kirchenratten, die wir im Glockenturm aufstöberten und nach unten trieben, hinter den Altar und in die Sakristei, die Leiche entsorgten wir im Weihwasserbecken, der Mesner am nächsten Morgen ließ die, wie er glaubte, ertrunkene Ratte verschwinden, ohne etwas von einem Lausbubenstreich zu ahnen.
"Die Zeichnungen in der Albertina sind, wenngleich sie schon seine ganze Könnerschaft bezeugen, Jugendwerke. Die Halluzination spielte eine entscheidende Rolle. Er war absolut ungläubig und ein großer Nietzsche-Verehrer. Trotz seiner Weltsicht, die schlichtweg grauenvoll war, zeigt er sich stets auffallend gutgelaunt", schreibt Julien Green über Alfred Kubin, der Bücher von Green gelesen und, wie er dem Künstler Fronius erzählte, sehr geschätzt hat. "Na, so was! Das kommt mir bekannt vor. Man befreit sich von seinen Phobien bei der Arbeit, und dann geht es einem wieder bestens. Fachleute mit Vorliebe für das Griechische nennen das Katharsis", so Green.
Erst zwei Jahre nach der Geburt von Alfred Leopold Isidor Kubin kehrte sein Vater Friedrich Franz Kubin, der als kaiserlich-königlicher Landvermesser im Staatsdienst war, von einem langen Aufenthalt aus Dalmatien, dem "halbvergessenen Lande" , nach Salzburg zurück, wo ihn der Sohn das erste Mal zu Gesicht bekam: "In unserem neuen Wohnort, an dem Mama sich mit mir gerade gemütlich eingerichtet hatte, brach er eines schönen Tages als ein missliebiger Mann herein. Durch eine rote Dalmatinermütze versöhnt, besänftigte sich bald meine Eifersucht, und wir schlossen – mit Vorbehalt – Frieden." Nach eigenen Worten soll Alfred ein wildes Kind, ein Schreihals und eine Zeitlang ein Tierquäler gewesen sein, der "Folterszenen an armen kleinen Tieren veranstaltete" , der sich in keine Gemeinschaft eingliedern konnte und dem jeder Zwang verhasst war, Kirche und Schule erst legten, um Kubins Worte zu gebrauchen, der "kindlichen Bestie unzerreißbare Zäume an".
Elf Jahre war er alt, als er von einer älteren, hochschwangeren Frau verführt und sexuell missbraucht wurde; in seinem elften Lebensjahr starb seine Mutter an Schwindsucht. Es war der erste Mensch, den er sterben sah, er war dabei, als seine Mutter die Letzte Ölung bekam und sich von ihren Angehörigen für immer verabschiedete. Verzweifelt hob sein Vater die "lange Leiche der abgezehrten Frau" aus dem Bett und lief damit, Hilfe schreiend, wie verrückt, immer wieder in der Wohnung auf und ab. "Im elften Jahr war ich dabei, wie meine Mutter starb ... wie nach ihrem Segen und den Abschiedsworten an mich plötzlich ihr vertrautes Gesicht spitz und fremd wurde ... Ich stand im Verlauf meines späteren Lebens noch oft an Sterbebetten, aber was ich da sah, konnte den Eindruck jenes ersten Sterbens nicht mehr beeinflussen. Die zahllosen Leichen und Sterbenden, die ich als Künstler schuf, auch sie sind Kinder jenes schaurigen Tages."
Nach dem Trauerjahr heiratete der Vater die Schwester von Alfreds Mutter, aber nach zwölf Monaten starb Alfreds Stiefmutter im Wochenbett. Sein verzweifelter und unglücklicher, einsam gewordener, mit dem Schicksal hadernder Vater verlor nach dem Tod seiner beiden Frauen den Glauben an Gott, an die Welt und an seinen Sohn, dem er nur mehr mit Ablehnung und Misstrauen begegnete, den er bei jeder Gelegenheit züchtigte, selbst dann, wenn Alfred nichts als kindliche Glücksgefühle zeigte oder wenn er nur lachte, aber nichts verbrochen hatte, er durfte seinem Vater nicht mehr unter die Augen kommen, durfte ihm weder beim Vogelfangen noch beim Blumenzüchten helfen. Die Amme von Alfreds jüngster Schwester, eine "rohe Bauernmagd" , die den Haushalt der mutterlosen Familie führen sollte, aber nur verwahrlosen ließ, verleumdete den jungen Alfred auf die schamloseste Weise wegen Kleinigkeiten bei seinem Vater, der ihn wiederum, ohne nachzufragen, bestrafte mit Ohrfeigen und Stockhieben. "Jetzt, wo ich bei keinem Menschen mehr Zuflucht fand, wo Christus und alle Heiligen taub blieben, wurde ich vollständig verstockt, ließ mich mit eingezogenem Kopf schlagen und fühlte nur Hass, Hass, Hass gegen meinen Vater und gegen alle Menschen im Herzen. – Oh, wenn ich sie nur hätte ermorden können!"
Da er in dieser "Höllenperiode" auch seinem leiblichen Vater aus dem Weg gehen musste, vereinsamte er vollkommen, zog sich von den Lebenden zurück, ging bereits in der Morgendämmerung, wenn die anderen noch schliefen, in die Berge, ließ sich von Naturkatastrophen, von Gewittern, Häuserbränden, reißenden und über die Ufer tretenden Wildbächen faszinieren, war bei Raufereien und auf Viehmärkten anzutreffen, ließ sich von den durchs Dorf marschierenden uniformierten Truppen und von dem Kult um Kaiser Napoleon begeistern, den er wie "einen Halbgott" verehrte, bedauerte auch, dass Napoleon kein Österreicher war. Der vereinsamte und scheu gewordene, zwangsläufig seine Familie meidende Außenseiter befreundete sich mit einem anderen Außenseiter, dem Fischer Hölzl, seinem "Gönner, Totengräber und Allerweltsgenie" , wie er ihn nannte, der immer wieder Leichen aus dem See zog, die Alfred neugierig bestaunte. Er ging zu den Fleischhauern und Schindern und schaute ihnen beim Töten, Schlachten und Ausnehmen der Tiere zu. "Die starr bohrenden Blicke meines Vaters im Zorn, das schreckliche Grinsen meines bestgehassten Lehrers, solche Eindrücke kann ich nicht vergessen, ich kann nicht darüber hinweg und versuche, mich in Bildern von immer neuen Physiognomien von dem Rest der Angst, die unbewusst in mir haust, zu lösen."
Von seinem Vater wurde der unangepasste Sohn, Nichtsnutz, Schulversager und Herumstreuner, der sich gerne am sandigen Seeufer aufhielt, der alleine durch die Scheunen, Ställe, Fischerhäuser und Mühlen seines Heimatdorfes Zell am See streifte, dem in seiner Einsamkeit und Verlorenheit der Wald als eine "einzige, mit Moos ausgepolsterte Wohnung" vorkam, nach Salzburg in eine Kunstgewerbeschule gebracht mit der Drohung, er werde in eine Besserungsanstalt geschickt, wenn er nicht pariere, keine Erfolge vorweisen könne; er sollte Stuckateur oder Holzschnitzer werden. Zwei Jahre lang besuchte er "mit Fleiß" die Gewerbeschule in Salzburg, begann zu zeichnen und kritzelte die Ränder seiner Schulbücher mit Zeichnungen von "Kriegszügen, Jagden, Torturen" voll, aber auch die Staatsgewerbeschule musste er verlassen, denn außer einem "Lobenswert" in Naturlehre hatte er nur schlechte Noten Zeugnis.
Von Schopenhauer berauscht
Alfreds Vater, der zum dritten Male heiratete, nämlich "ein Fräulein aus Klagenfurt", schickte seinen Sohn daraufhin zu dessen Onkel Adolf Beer, einem Landschaftsfotografen, nach Klagenfurt. Bei der Fotografenlehre in Klagenfurt, in der St.-Veiter-Straße 24, wenige hundert Meter, einen Pistolenschuss, von der Stadtpfarrkiche entfernt, wo an einem Nebenaltar unter einem traurigen Bildnis der Schmerzensmutter in einer Gruft seit über zehn Jahren Julien Green ausharrt und auf seine glorreiche, den Himmel bestürzende Auferstehung wartet, in Klagenfurt also, wo sein Lehrherr und Onkel, der Landschaftsfotograf Adolf Beer, sein Atelier hatte, der meistens für Fotoaufnahmen unterwegs, kaum anwesend war in der Fotowerkstatt, bekam er von den älteren Angestellten vor allem Haushaltsarbeiten zugewiesen, lernte nichts für seinen zukünftigen Beruf, war auch nach diesen vier Jahren nicht imstande, eine Fotografie in der Dunkelkammer herzustellen. Der mechanischen und uninspirierten Tätigkeit des Entwickelns und Retuschierens von Aufnahmen, die sein Onkel von seinen langen Reisen ins Studio schickte oder selber in die Werkstatt brachte, wurde er bald überdrüssig. "Und erst nach vielen Jahren, als ich die Leiter einiger Reproduktionsanstalten von Weltruf freundschaftlich kennen lernte, machte ich mich nebenher fast spielend mit allem Wesentlichen dieser schönen Techniken vertraut. Dafür machten in Klagenfurt allerdings meine Kenntnisse des allgemein menschlichen Wesens rasche Fortschritte. Aus meiner seltsamen Zwischenstellung, Neffe und zugleich Lehrbub, erwuchs ein dauernder Zwang, in welchem bei der Stupidität meiner Handlangerarbeit jede wirkliche Lust zum Fotografenberuf zugrund ging."
In dieser Zeit der Langeweile und Ratlosigkeit überkam den inzwischen neunzehnjährigen Alfred Kubin das "Lesefieber". Vor allem nachts, bis in die frühen Morgenstunden las er den einen "spannenden" Roman nach dem anderen, ließ sich von Schopenhauer berauschen – "Die Welt ist eben die Hölle und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin" , so Schopenhauer -, kaufte sich ein Fahrrad, um in der Umgebung von Klagenfurt auf Touren gehen zu können, und beherbergte Ungeziefer, Schlangen, Würmer und Käfer in seinem Zimmer. Der Einzelgänger, der auch kein kameradschaftliches oder freundschaftliches Verhältnis zu seinen Mitarbeitern im Fotoatelier aufbauen konnte, durchbummelte, von Gasthaus zu Gasthaus streifend, in einem "zügellosen Jahr" die Nächte, bis er ausgelaugt war, seine Kräfte nachließen und er zu kränkeln begann, sich sein Gesundheitszustand immer weiter verschlechterte und ihn ein "böser Katzenjammer" erfüllte.
Er ließ sich schließlich auch noch auf die Experimente eines Hypnotiseurs ein, die ihn zwar begeisterten, durch die aber, da er sich dabei besonders engagierte – durch die Suggestion hatte der Zauberer den Jugendlichen "nach einigen Minuten vollständig unter seinen Willen gebracht" -, schließlich seine Nerven noch mehr strapaziert wurden, er noch nervöser und verworrener wurde, sich auf rabiate Weise mit seinen Kollegen in der Fotografenwerkstatt seines Onkels stritt, bis er, immer unzufriedener und verzweifelter, schließlich seinem unnützen und verpfuschten Leben, wie er es nannte, ein Ende machen wollte.
Er trieb einen alten Revolver auf, setzte sich in den Zug, fuhr an den Ort seiner Kindheit, nach Zell am See, einem Hochgebirgsdorf im Salzburgischen, um sich am Grab seiner Mutter zu erschießen. Wegen Hochwassers blieb der Zug auf den überfluteten Gleisen stecken und verspätete sich zwei Tage. Schließlich nachts am Grab seiner Mutter angekommen, betete er zuerst "zum lieben Gott" , bat, vor dem Grabhügel stehend, seine Mutter, dass sie ihm doch die nötige Kraft geben möge, damit er einen endgültigen Schlussstrich unter sein Leben ziehen könne, zögerte und wartete das Läuten der Kirchenglocken in der Hoffnung ab, dass ihm vielleicht doch jemand zu Hilfe eilen und ihn am Selbstmord hindern würde.
Um nicht das Gehirn zu verfehlen, um nicht womöglich als geistiger Krüppel und körperliches Wrack vor dem Grab seiner Mutter aufgelesen zu werden, kennzeichnete er mit einer Nadel seine rechte Schläfe, bevor er den Pistolenlauf ansetzte und abdrückte, aber die eingerostete Waffe funktionierte nicht, beim zweiten Mal fehlte ihm die "seelische Kraft" . In einem erbärmlichen Zustand verließ er den Friedhof, übernachtete in einem Gasthaus, ging schließlich reumütig zu seinem Vater, der ihn ohne gröbere Vorwürfe wieder nach Klagenfurt zurückschickte. Sein Onkel, der inzwischen von einer Reise zurückgekehrt und durch Alfreds Arbeitskollegen von der Flucht seines Neffen unterrichtet worden war, kündigte ihm noch am selben Tag, stellte ihm aber ein positives Lehrzeugnis aus.
Nach dem gescheiterten Selbstmordversuch meldete sich Alfred freiwillig zum Militär, wo man ihn wegen seiner schwächlichen Konstitution nicht rekrutieren wollte, aber als er bei der Musterung in strammer Haltung und splitternackt vor dem Stabsoffizier stand und wortreich beteuerte, dass er Militärkartograf werden möchte, wurde er aufgenommen, jedoch bereits nach ein paar Wochen, als er das Begräbnis eines verstorbenen Divisionskommandanten besonders würdig gestalten wollte, aber bereits bei der Organisation durch "nervöses Gebaren" auffiel, bekam er einen schweren Nervenzusammenbruch und musste nach einem Deliriumsanfall – er bildete sich ein, ein bourbonischer Prinz auf der Insel Borneo zu sein – vier Monate lang im Garnisonsspital untergebracht werden.
Nach dieser neuerlichen Krise wurde er wieder von seinem Vater aufgenommen. Als Rekonvaleszent in sein Elternhaus in Zell am See zurückgekehrt, wo er ein Jahr lang blieb, begann er zu zeichnen und Bilder aus illustrierten Zeitungen zu kopieren, sodass ihm der inzwischen verwandelte, gutmütig gewordene Vater, der unter der Nervenkrankheit seines Sohnes gelitten haben dürfte und "vielleicht in ihr die Strafe des Himmels für seine Härte dem einzigen Sohn gegenüber" sah, nach Anraten eines kunstsinnigen Freundes der Familie als letzten Ausweg die Erlaubnis gab, in München Kunst zu studieren.
Zuerst besuchte Alfred Kubin, der für diese weitere Ausbildung mit einer kleinen Gelderbschaft seiner Großeltern ausgestattet wurde, in München die private Malschule von Ludwig Schmidt-Reutte, danach wurde er in die Bayerische Akademie der bildenden Künste aufgenommen und "schweifte mit übervollem Herzen" in München umher, wo er sich, im "Gegensatz zur bösen Vergangenheit" , das erste Mal in seinem Leben frei fühlte, ihm niemand etwas vorschreiben konnte – eine "lange, schöne Zeit", in der viel gemalt und gefeiert wurde, wobei er sich in einen Künstlerfreundeskreis integrieren konnte.
Da seine erotischen Wünsche und sexuellen Begierden den Schwabinger Künstlerkollegen nicht verborgen blieben, wurde er in der Faschingszeitung der Sturmfackel von 1902 als "Perversus/Onanos" karikiert. Nach einem Jahr brach der Variétébesucher Kubin das Studium ab, nachdem er in München im Kupferstichkabinett von Max Klinger den Radierzyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs gesehen hatte, wovon er sich vollkommen verzaubern ließ, und schuf, "förmlich genotzüchtigt von einer dunklen Kraft" , in rauschhaften Schüben, die einen "Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder" hervorbrachten, in den folgenden Jahren sein aus einer großen Anzahl von Blättern bestehendes albtraumhaft-fantastisches Frühwerk. "Doch lieber wollte ich zugrunde gehen als etwas Unoriginelles schaffen", lautete die malerische Devise von Kubin.
1903 nahm sich der Philosoph Otto Weininger, der das berühmte Buch Geschlecht und Charakter geschrieben hatte, im Alter von 23 Jahren im Sterbehaus Beethovens in Wien das Leben. Er galt Alfred Kubin zu dieser Zeit als der "größte Mensch des Jahrhunderts" , wie er seinem Freund, dem Schriftsteller Fritz von Herzmanovsky-Orlando, schrieb. Kubin ereilte in diesem Jahr ein weiterer Schicksalsschlag. Kaum hatte der Fünfundzwanzigjährige bei ihren Verwandten um die Hand seiner Freundin Emmy Bayer angehalten, starb diese nach einem zehntägigen Krankenhausaufenthalt in einer Münchner Klink an Typhus. "Als ich an der Leiche stand, begriff ich mit einem Schlag, dass das höchste Glück für mich auf alle Zeiten dahin war. In grenzenloser Verzweiflung wollte ich schreien, brachte aber keinen erleichternden Laut hervor. Furchtbar öd und leer erschien mir mein Dasein fortan; ich verlor allen Lebensmut und vergeudete meine Ersparnisse sinnlos, weil sie mir nun doch keinen Zweck mehr zu haben schienen."
Ein halbes Jahrzehnt später, 1907, nach der ersten Stockung seines künstlerischen Schaffens und nach dem Tod seines Vaters, mit dem er seit seinem Abgang nach München ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, das er nach seiner Übersiedlung ins oberösterreichische Dorf Zwickledt, wo er bis zu seinem Tod in einem schlossartigen Gebäude blieb, noch vertiefen konnte, reiste er mit Herzmanovsky-Orlando durch Oberitalien und bis nach Venedig. Nach der Rückkehr notierte er in seinen autobiografischen Schriften: "Voll Eile und Sehnsucht kam ich zu Hause an. Als ich dann eine Zeichnung anfangen wollte, ging es absolut nicht. Ich war nicht imstande, zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen ... Diesem neuen Phänomen stand ich erschrocken gegenüber, denn, ich muss es wiederholen, ich war innerlich ganz und gar mit Arbeitsdrang gefüllt. Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben."
Innerhalb von drei Monaten, im "Wendepunkt einer seelischen Entwicklung" , schrieb der stets von neurotischen Zusammenbrüchen bedrohte Künstler, der zeitlebens von der ödipalen Begegnung mit seinem Vater als Zweijähriger, von einem Totschlag, den er als Kind auf der Straße gesehen hatte, vom schrecklichen, frühen Tod seiner an Schwindsucht verstorbenen Mutter und der Szene des mit dem dünnen Leichnam hysterisch schreiend durchs Haus laufenden Vaters sowie von der ersten sexuellen Erfahrung als Elfjähriger mit einer hochschwangeren Frau belastet blieb, von einem inneren Drang Tag und Nacht zur Arbeit gepeitscht, wie er sich ausdrückte, seinen fantastischen Roman Die andere Seite, den er im darauffolgenden Monat illustrierte und der bei seinem Erscheinen von Max Dauthendey, Stefan Zweig, Franz Blei, Ernst Jünger und von Franz Kafka – Kubin besuchte einmal Kafka – gelobt wurde.
Wassily Kandinsky schrieb an Kubin: "Wie können Sie denn nur eine Seite des ‚Lebens‘ fühlen? Wodurch bleibt die andere für Sie verdeckt? Oder besser: warum sehen Sie nur Die andere Seite? In diesem famosen Buch haben Sie tausend Mal Recht. Es ist beinahe eine Vision des Bösen. Sie müssen aber jetzt Ihrer Wachspuppe den Kopf abschlagen u. mit Füßen zertreten zu Staub. Aber da Sie so stark den Bösen gesehen haben, so kommen Sie ganz bestimmt auch zum anderen Sehen. Das fühle ich plötzlich ganz deutlich."
Einen Pistolenschuss entfernt
"Ich gehe noch weiter" , schreibt Julien Green in seinem Tagebuch vom 27. Oktober 1977, nachdem er in der Albertina in Wien eine Ausstellung mit Kubin-Bildern gesehen hatte, "und sehe einen Mann, der sich umbringt, geblendet von einer Frau, die die Röcke hochgerafft hat, um ihm ihr Geschlecht zu zeigen. Man gerät an die Grenze des Ekels, doch unbestreitbar ist das Talent des Künstlers eine Kraft, die einen in Bann schlägt. Wo bleibt die Liebe bei alldem? Sind wir auf dieser Welt oder in der Hölle?"
Ein Bild, eine Tuschzeichnung mit dem Titel Die Dame auf dem Pferd, zeigt eine herrische, auf einem Schaukelpferd sitzende schwarzgekleidete Frau mit schwarzem Zylinder, schwarzem, über ihrem Nacken stehendem Haarknoten, die eine Reitpeitsche an ihre Hüften drückt. Das Schaukelpferd mit seinen geblähten Nüstern, mit dem Pferdegebiss seines Ober- und Unterkiefers und den hervorstechenden Augäpfeln, ist mit seinen hufbeschlagenen Beinen auf den großen Sicheln zweier Wiegemesser befestigt, womit die auf dem Schaukelpferd wippende, die Maske eines blassen männlichen Gesichts tragende Reiterin kreuz und quer auf dem Boden liegende menschliche Körper zerschneidet und zerstückelt.
Na so was, das kommt mir bekannt vor, Monsieur Green! Nach dem Fußwaschen soll man die Füße nicht mit einem Tuch abtrocknen, man soll sie von der Luft trocknen lassen, sonst beginnt die heilige Maria Magdalena zu weinen, die einst Christus die Füße, Zehen und die Fersen mit ihren Haaren getrocknet hat. Monsieur Green! Nimm die Zunge eines Geiers, und binde sie unter die linke nackte Ferse, nimm in deine rechte Totenhand eine Eisenkranzwurzel, richte dich auf in der Kirchengruft der Stadtpfarrkirche in Klagenfurt, einen Pistolenschuss von der St.-Veiter-Straße 24 entfernt, wo Alfred Kubin als Fotografenlehrling gearbeitet hat, fahre mit deinem bläulich-gelben Zeigefinger die Sätze in deinem Tagebuch vom 27.Oktober 1977 nach und buchstabiere: "Ein kleines Bild etwas weiter, mit dem schlichten Titel Madame, zeigt eine sehr elegante Dame in langem schwarzem Kleid, die in einem Alptraumlächeln den Kopf abwendet, weil sie an einem Kronleuchter hängt."
Und ich gehe weiter und kehre zum von Julien Green erwähnten Bild des Mannes zurück, der sich umbringt, "geblendet von einer Frau ...": Der Schuss ist gefallen, der Mann im Bild Selbstmord liegt rücklings auf dem Boden. In seiner linken, ausgestreckten Hand ist die rauchende Pistole an seinem Zeigefinger hängengeblieben, der Kopf liegt in einer Blutlache, Blut rinnt aus seinem offenen Mund auf seine Achsel hinunter. Im Augenblick des Todesschusses ist aus der Seele des Mannes ein übergroßer schwarzer, über den Unterschenkeln des Toten schwebender Luftballon gefahren – "Ich könnt aus der Haut fahren!" -, auf dessen höchster Erhebung ein halsloser Schädel, eine Mischung aus Ziegenbock und Teufelsfratze mit Spitzbart und Hörnern, zu sehen ist. Dem schwarzen Luftballon ist auch eine vor Entsetzen schreiende, über dem Toten schwebende Frau entwichen, die ihren Rock obszön in die Höhe hält und ihren in bis zu den Knien reichende Wäsche verpackten Unterkörper dem Selbstmörder präsentiert.
"Der richtige Beschauer, wie ich ihn mir wünsche", schreibt Alfred Kubin, "würde sich meine Blätter nicht nur genießend oder kritisch ansehen, sondern, wie durch geheime Berührung angeregt, müsste sich seine Aufmerksamkeit auch der bilderreichen Dunkelkammer des eigenen träumerischen Bewusstseins zuwenden. Denn wir alle, ob wir darum wissen oder nicht, bergen das Erbe einer ungeheuren persönlichen Vergangenheit zutiefst in uns. Die einstigen Erlebnisse – sie gehen oft bis auf die Zeit der dämmernden Kindheit zurück – sind nicht etwa vorbei oder tot, nein, sie gebären sich immer wieder neu, prägen sich in unsere Seele um und gehen zahllose Verbindungen mit den Eindrücken später dazugekommenen Erlebens ein." (Josef Winkler, ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 04./05.04.2009)
Dieser Text von Josef Winkler ist die leicht gekürzte Fassung eines Nachworts zum Kubin-Roman "Die andere Seite", der Mitte Mai im Suhrkamp-Verlag in einer Neuausgabe erscheinen wird.