Foto: Stefan Karner

Abertausende Regalmeter mit erbeuteten Akten aus halb Europa, fein säuberlich zu Fonds zusammengefasst: das Sonderarchiv in Moskau. Die Historiker Gerhard Jagschitz und Stefan Karner bearbeiteten ab 1992 die österreichischen Bestände. Ein Teil der Beute kommt nun zurück nach Wien.

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Das viele Jahrzehnte geheim gehaltene Sonderarchiv in Moskau für die erbeuteten Akten: nach dem Zweiten Weltkrieg von Kriegsgefangenen errichtet.

Bereits im April 2008 hätte das Staatsarchiv die Materialien abholen können.

Die Straße im Norden von Moskau soll keinen Namen, das Gebäude keine Nummer gehabt haben. Was in ihm vor sich ging, war streng geheim. Die Mitarbeiter bekamen für ihre Verschwiegenheit Zulagen.

Wenngleich die mächtige Fassade anderes vermuten lässt: Errichtet wurde das Gebäude erst 1946. Von österreichischen und deutschen Kriegsgefangenen für all die Akten, die von der Roten Armee erbeutet worden waren. Darunter auch Abertausende aus Österreich.

Von 1938 an hatten die Nationalsozialisten Schriftstücke, die von politischem Interesse waren bzw. über potenzielle wie wirkliche Gegner Auskunft gaben, nach Berlin verbracht. Dort wurden die Dokumente der Kultusgemeinde, der Freimaurerloge, des Kanzleramts, der Vaterländischen Front und so weiter ausgewertet. Aufgrund der Luftgefahr ab 1942/43 verlagerte man die Akten gen Schlesien. Natürlich nicht nur die österreichischen, sondern alle, derer man bei den Eroberungsfeldzügen Hitlers in halb Europa habhaft geworden war, und auch die sensiblen Dokumente des Dritten Reiches.

Ab Ende 1944 hatte die Rote Armee genaue Kenntnisse: Spezialeinheiten fanden die Akten und ließen sie in Eisenbahnwaggons nach Moskau bringen. Parallel dazu stieß auch die kämpfende Truppe auf Materialien: in Wien, in St. Pölten. In Eisenstadt erbeutete man 1646 äußerst wertvolle Bücher aus der fürstlichen Sammlung, der Bibliotheca Esterházyana.

Beeindruckende Beute

Im Herbst 1945 gab es in Moskau einen beeindruckenden Bestand an Trophäen: Akten, Papyri, Handschriften, Urkunden, Kunstwerke. Stalin wollte sie stolz zur Schau stellen. Ein Museum wurde dann aber doch nicht gebaut, sondern nur ein Archiv, eben das Sonderarchiv des Ministerrates der UdSSR. Später errichtete man noch ein weiteres Gebäude: für die Akten der Kriegsgefangenen.

Das Sonderarchiv war "absolut geheim", wie der Historiker Stefan Karner erzählt: "Die Russen haben noch zu Beginn der Perestrojka geleugnet, dass es eine solche Einrichtung gibt. Alle Anfragen wurden negativ beschieden – sowohl hinsichtlich der Kriegsgefangenen als auch der verbrachten Akten." Von Zeit zu Zeit wurden aber "zufällige Funde" zurückgegeben – etwa an die DDR und Jugoslawien – oder bei Staatsbesuchen als Geschenk mitgebracht. So erhielt Österreich 1960 einige Dokumente zurück, darunter Briefe von Metternich an Salomon Rothschild.

Ende 1990 begann Karner im Archiv des russischen Außenministeriums über die Kriegsgefangenen zu forschen. "Ich bin nicht recht weitergekommen." Etliche Monate später hielt er in Jekaterinburg (Swerdlowsk) einen Vortrag – und nun erfuhr er mehr: Die russischen Kollegen zeichneten ihm die Lage des Archivs für die Kriegsgefangenen auf. Es stand, wie jenes für die Akten, ab nun der Wissenschaft offen. "Der Rest war Handwerk": Mit seinem Team bearbeitete Karner die Akten aller 136.000 österreichischen Kriegsgefangenen.

Ein Kilometer Akten

In der Folge stieß er auch auf das Archiv mit den Akten: "Dort sah ich die Sachen, die Hitler im Bunker hatte: ein Sofa, Bilder, persönliche Gegenstände – und Knochen. Die Russen sagten, sie seien von Hitlers Schädel." Die Archivalien waren bereits nach Ländern sortiert, die österreichischen erstreckten sich über einen Kilometer. Unabhängig von Karner entdeckte auch Gerhard Jagschitz die Beuteakten.

1992 begannen sie mit der Erhebung, 1996 erschien ihr Buch Beuteakten aus Österreich. Der Österreichbestand im russischen Sonderarchiv Moskau (268 Seiten). Schon damals hätte er, sagt Karner, "die Idee einer Restitution gehabt". Doch nur die Franzosen nutzten die Gunst der Stunde: Überfallartig holten sie einen Teil ihre Aktenbestände ab. "Danach war Stopp."

2001 suchte die Bundesregierung offiziell um die Restitution der Akten an. Doch die Russen unterschieden – in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg – in Feindstaaten und befreundete Staaten. "Die Frage lautete: Was ist Österreich? Die Duma beriet jahrelang. Und beschloss: Akten mit österreichischer Provenienz werden restituiert, wenn es einen Rechtsnachfolger gibt", so Karner. "Nicht restituiert werden daher reichsdeutsche Akten, etwa von der Polizeidirektion in St. Pölten der Jahre 1938 bis 1945."

Von 2004 an verhandelte ein Team, dem u. a. Gottfried Toman von der Finanzprokuratur und Emil Brix vom Außenministerium angehörten, mit den Russen – auch über die Rückgabe der 570 Papyri aus der Nationalbibliothek. Im März 2005 konnte man eine Übereinkunft erzielen: Österreich verpflichtete sich, in zwei Tranchen 400.000 Dollar für die Aufbewahrung und Mikroverfilmung zu zahlen. Und die Russische Föderation verabschiedete eine Verordnung über die Rückgabe von 51 Fonds. Im April 2007 wurde vereinbart, dass die Übergabe bis 1. April 2008 stattfinden soll.

Zum Abtransport bereit

Die Russen hielten sich daran: Die Akten liegen seither verpackt zum Abtransport bereit. Doch das Österreichische Staatsarchiv holte sie bisher nicht ab. Dessen Generaldirektor Lorenz Mikoletzky entschuldigt das Versäumnis mit der Republiksausstellung im Parlament, die er zu kuratieren hatte (siehe Interview auf Seite 3).

Im Außenministerium übt man Kritik: Es sei unverständlich, dass man dem Entgegenkommen mit Ignoranz begegne. Die Russen hätten mehrfach nachfragen müssen, wann das Staatsarchiv die Akten abzuholen gedenke.

Nur die Hälfte kommt zurück

Österreich erhält 10.770 Faszikel zurück: Akten des Kanzleramtes, der Monarchistischen Vereinigung, der Vaterländischen Front, des Bundeswirtschaftsrates, der Redaktionen Welt am Morgen und Morgenpost, des Verbands der Sparer und Kleinrentner, der Weltjugendliga, der Verkehrspolizei, der Schiedsrichter des Grazer Fußballverbandes etc. sowie Nachlässe.

Mikoletzky meint, dass 90 Prozent der österreichischen Bestände zurückkämen; Emil Brix hingegen glaubt, dass dieses Konvolut maximal die Hälfte darstellt. Denn viele äußerst wichtige Dokumente bleiben in Moskau: unter anderem die Akten der jüdischen Organisationen (siehe Artikel rechts), der Bundespolizeidirektion Wien, pazifistischer Organisationen, des Zentralbüros der Paneuropäischen Union, der Schutzpolizei Wien, der Harandbewegung sowie die Nachlässe von Othmar Spann, Gustav Leopold Jahoda und David Herzog. Insgesamt handelt es sich dabei um rund 6100 Faszikel. Hinzu kommen die Akten deutscher und österreichischer Freimaurerlogen (14.414 Faszikel).

Die Russen betrachten die meisten der Akte als reichsdeutsche, weil man sie in der NS-Zeit z. B. mit dem Hakenkreuzstempel versah. Im Vertrag von April 2007 wurde vereinbart, diese nicht geklärten Restitutionsfälle "raschest" zu lösen. Passiert ist aber nicht viel.

Das Außenministerium kämpft weiter um die Rückgabe der 570 Papyri, die Esterházy-Stiftung (sie bekam von Ungarn 334 Bücher zurück) um die Restitution der restlichen Bibliothek. Bisher erfolglos. (Thomas Trenkler, DER STANDARD/Printausgabe, 04./05.04.2009)