Beim „Doppelmord-Prozess" in Graz entschieden die Geschworenen, dass sich der Täter in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütserregung zur Tat habe hinreißen lassen und daher nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlages zu verurteilen sei. Allgemein begreiflich ist eine Gemütserregung dann, wenn ein Durchschnittsmensch sich vorstellen kann, auch er wäre unter den gegebenen Umständen in eine solche Gemütserregung geraten.

Die Grazer Geschworenen konnten sich das vorstellen. Die Berufsrichter offenbar nicht. Sie setzten das Urteil aus. Der Prozess muss neu durchgeführt werden.
Österreich ist anders. Die Aussetzung des Urteils zum Nachteil des Angeklagten gibt es - soweit überschaubar - sonst nirgends. In England verkündete Lord Mansfield als Chief Justice im Jahr 1784: „The jury might follow the prejudices of their affections or passions, which is a matter entirely between God and their own conscience." Dabei ist es bis heute geblieben.

Bis zum 17. Jahrhundert waren die Juroren in England oft Repressalien ausgesetzt, wenn sie nicht bereit waren, so zu entscheiden, wie die Obrigkeit das wollte. Den Wendepunkt stellte der Fall Bushell im Jahr 1670 dar. Zwölf Juroren weigerten sich, die Quäker William Penn und William Mead wegen Abhaltung einer volksverhetzenden Versammlung zu verurteilen. Sie wurden zwei Nächte lang eingesperrt, ohne Essen, Wasser, Tabak, Nachttopf. Als sie sich immer noch weigerten, ihren Freispruch zurückzunehmen, wurden sie zu Haftstrafen verurteilt. Sie beschwerten sich beim Lord Chief Justice und bekamen recht: Die Juroren haben nur ihrem Gewissen zu folgen. Der Geschworenenprozess wurde von nun an als „bulwark of liberty" gefeiert.

In den USA hat die sogenannte „jury nullification", also die Freiheit der Jury, nur ihrem Gewissen folgend zu entscheiden, als Schutzschild gegen die Unterdrückung durch die englische Kolonialherrschaft eine lange Tradition.

Gegen die Obrigkeit

So wurde etwa der Zeitungsherausgeber Peter Zenger von der englischen Krone wegen Beleidigung des allseits verhassten englischen Gouverneurs angeklagt. Vonseiten des Gerichts wurde viel Mühe aufgewendet sicherzustellen, dass genügend „zuverlässige Männer " als Juroren fungieren. Als der Verteidiger durch den vorsitzenden Richter gehindert wurde, Zeugen zu präsentieren, die bestätigen sollten, dass Zenger die Wahrheit geschrieben hatte, appellierte er an die Geschworenen, ein Zeichen zu setzen: „Hier geht es nicht um einen armen Zeitungsmacher, hier geht es um alle freien Bürger, die unter der Regierung der britischen Krone leben, hier geht es um die Freiheit." Die Geschworenen sprachen Zenger frei, und die Kunde verbreitete sich im ganzen Lande.

Der Spruch der Geschworenen darf in den USA nur zum Vorteil des Angeklagten aufgehoben werden. Dies ist durch das 5. Zusatzprotokoll in der Verfassung verankert. In Österreich war das auch einmal so, und zwar bis zum Jahr 1933, als durch eine Verordnung des Justizministers, basierend auf einem kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1917, verfügt wurde, dass der Wahrspruch der Geschworenen auch zum Nachteil des Angeklagten auszusetzen ist.

In der Verordnung heißt es: „... womit zur Hintanhaltung der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen Schädigungen des wirtschaftlichen Lebens besondere Maßnahmen für das Verfahren vor den Geschworenengerichten getroffen werden."
Damit wurde den verheerenden Folgen des Freispruchs im sogenannten Schattendorf-Prozess, der den Justizpalastbrand, den Tod von 89 Menschen und bürgerkriegsähnliche Zustände zur Folge hatte, Rechnung getragen.

1934 wurde der Geschworenenprozess abgeschafft. Bei der Wiedereinführung im Jahr 1950 wurde dann die Möglichkeit der Aussetzung zum Nachteil des Angeklagten mit übernommen.
Es drängt sich die Frage auf, warum man den Geschworenenprozess überhaupt wieder eingeführt hat, zumal er in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern, wie etwa Deutschland und Frankreich, schon ausgedient hatte. Aber die Tage des österreichischen Geschworenenprozesses sind ohnehin gezählt. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrmals ausgesprochen, dass ein Urteil ohne Begründung nicht den von der Menschenrechtskonvention geforderten Rechtsschutz biete. Gerichtliche Entscheidungen ohne Begründung gab es sonst nur noch bei standrechtlichen Urteilen und - bei Gottesurteilen. (Katharina Rueprecht/DER STANDARD-Printausgabe, 9. April 2009)