Im mittelitalienischen Erdbebengebiet leiden die Obdachlosen unter Regen, Kälte und neuen Erdstößen. Heftiger Wind, Dauerregen und Temperaturen nahe dem Nullpunkt machten den Bewohnern der Zeltstädte am Osterwochenende zu schaffen. Fast genau eine Woche nach dem folgenschweren Beben erschütterte ein Erdstoß der Stärke 4,9 das Gebiet der Abruzzen und ließ mehrere beschädigte Gebäude einstürzen.
Im 750 Meter hoch gelegenen und von verschneiten Bergen umgebenen L'Aquila wurde am Dienstag mit vier Grad die tiefste Temperatur aller italienischen Provinzhauptstädte erwartet. Der Zivilschutz verteilte Heizkörper und zusätzliche Decken an die Zeltbewohner und versprach, auch mehr Duschen mit Warmwasser zu installieren. Im fast gänzlich zerstörten Onna stand das Lager teilweise unter Wasser, zahlreiche Zelte mussten verlegt werden.
Büros nehmen Arbeit wieder auf
Indessen bemühten sich die Behörden in L'Aquila am Dienstag, der Stadt einen ersten Anstrich von Normalität zu verleihen: Die Gemeindebediensteten nahmen in behelfsmäßig eingerichteten Büros wieder die Arbeit auf, in den Zeltstädten wurden zehn Postämter eröffnet. Der Regionalrat trat erstmals nach der Katastrophe zusammen - und in Poggio Picente fanden sich die Schüler in großen Zelten zum Unterricht ein. Die fast unbeschädigt gebliebene Kunstakademie will den Lehrbetrieb am Donnerstag wieder aufnehmen. Erste Geschäfte und Betriebe sperrten wieder auf, Experten begannen mit der Begutachtung der beschädigten Bauten.
Ernüchternde erste Bilanz
Nach einer ersten Bilanz müssen rund 30 Prozent aller Gebäude in L'Aquila abgerissen werden, 20 Prozent der beschädigten Häuser könnten nach geeigneter Renovierung wieder bewohnt werden. Die Hälfte aller öffentlichen Gebäude ist unbenützbar.
Spital arbeitete ohne amtliche Nutzungserlaubnis
Als besonders krasser Fall von Missachtung geltender Gesetze gilt das vor neun Jahren eröffnete und nach dem Beben evakuierte Krankenhaus der Stadt: Das Spital arbeitete offenbar seit Jahren ohne amtliche Nutzungserlaubnis. Beim Versuch, dieses Versäumnis nachzuholen, musste der Chef des Gesundheitssprengels feststellen, dass das Krankenhaus gar nicht ins Gebäudekataster der Gemeinde eingetragen ist. Er habe sich in einer "kafkaesken Lage" befunden, räumte Roberto Marzetti ein: "Für den Staat existiert das Gebäude offiziell gar nicht."
"Sicherheitsstandard gleich null"
Dem weitgehend eingestürzten Regierungspalast dagegen hatte ein Gutachten erst im Vorjahr einen "Sicherheitsstandard gleich null" bescheinigt - ohne konkrete Folgen. Die Staatsanwaltschaft in L'Aquila hat nun eine lückenlose Aufklärung aller Hintergründe versprochen.
Baufirmen haben Normen bewusst ignoriert
In vielen Fällen sollen Baufirmen bestehende Normen bewusst ignoriert und minderwertige Betonmischungen verwendet haben. Staatsanwalt Alfredo Rossini wird nach dem Einsturz des Gerichtsgebäudes vorläufig in der Kaserne der Finanzpolizei beherbergt. Der Schriftsteller und Mafia-Experte Roberto Saviano warnte am Montag bei einem Besuch im Bebengebiet vor den vielschichtigen Interessen der Camorra beim Wiederaufbau. Die Abruzzen gehörten "zum Einflussbereich zahlreicher Clans mit handfesten Interessen". Die Mafia werde "nichts unversucht lassen, ihren Teil vom gigantischen Geldfluss abzuzweigen".
Auch der Anti-Mafia-Staatsanwalt Pietro Grasso forderte, bei der Vergabe der Arbeiten müsse "auf größte Transparenz geachtet" werden. Dagegen drängen zahlreiche zerstörte Betriebe auf rasche und unbürokratische Beseitigung der Schäden. Über 5000 Geschäfte und Handwerksbetriebe sind geschlossen, 150 Industrieunternehmen stillgelegt. Als Folge des Bebens sind über 30.000 Menschen arbeitslos. Nach Angaben des Zivilschutzes werden 25.050 Obdachlose derzeit in 67 Zeltsiedlungen beherbergt. 21.221 sind - vorwiegend an der Adriaküste - in Hotels untergebracht. (Gerhard Mumelter aus Rom/DER STANDARD, Printausgabe, 15. April 2009)