Auf den ersten Blick ist es ein riesiger Müllhaufen. Man wundert sich, warum das wilde, stinkende Abfalldepot knapp 100 Meter vom modernen Belgrader Kongresszentrum Sava und den Luxushotels Continental und Hyatt Regency nicht geräumt wird. Erst wenn man genauer hinschaut, erkennt man die Umrisse von Baracken. Etwa 350 Bruchbuden sind auf einem halben Quadratkilometer in der "Kartonsiedlung" verstreut, in der rund 2000 Menschen leben. Man befindet sich unter der "Gazelle" genannten Save-Brücke, einem Teil der Autobahn, die Südosteuropa mit dem Westen verbindet.

Weder Wasserleitung noch Kanalisation

Die Familie Ferizoviæ lebt "da unten, bei den Schienen, neben dem Trafo". Sanja kommt gerade mit Kanistern voller Trinkwasser. "Serbische Nachbarn geben uns Wasser", sagt sie. Denn die Siedlung hat weder eine Wasserleitung noch Kanalisation und elektrischen Strom. Strom zapft man entweder von der Straßenbeleuchtung ab - "dann hat man ihn nur, wenn es dunkel wird" - oder von elektronischen Werbetafeln, die den ganzen Tag über Strom liefern.

Hohe Säuglingssterblichkeit

Sanja ist siebzehn. Sie hat einen zweijährigen Sohn, Gabriel. Ihr jüngeres Kind ist vor einigen Monaten verstorben. "Viele Babys sterben", erzählt sie. Denn die Lebensbedingungen in der "unhygienischen" Siedlung sind hart. Im Winter ist es bitterkalt, im Sommer unerträglich heiß. Und Ratten, so groß wie kleine Hunde, machen den Menschen schwer zu schaffen.

Sanjas Mutter Gordana lebt seit 18 Jahren in der Siedlung. Nur etwa ein Drittel der dortigen Kinder geht in die Schule, sagt sie. Andere schicken die Eltern "an die Ampel", das heißt, sie gehen betteln. Rund 70 Prozent der Einwohner der Siedlung sind gar nicht in Belgrad gemeldet, es sind Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien, vor allem aus dem Kosovo. Seit Jahren haben sie keine Hilfe vom Staat bekommen Ein Problem ist auch, dass es in der Siedlung keine gesellschaftliche Ordnung, keine Vertreter gibt, die mit den Behörden verhandeln könnten.

Proteste der Einheimischen

Die Kartonsiedler befürchten, dass sie schon im Sommer mit Gewalt umgesiedelt werden, weil die Brücke repariert werden muss. Dann kommen die Bagger und reißen die Häuser ab, wie es vor wenigen Wochen unweit der Brücke in einer anderen Roma-Siedlung geschehen ist. Der Versuch der Stadtbehörden, Roma aus "unhygienischen" Kolonien umzusiedeln, ist bisher stets an, manchmal gewalttätigen, Protesten der Einheimischen gescheitert.

100.000 Roma in Serbien

Offiziell leben in Serbien an die 100.000 Roma, inoffiziell dürften es aber über eine halbe Million sein. Etwa 125 Siedlungen sind registriert, davon sind 44 "unhygienisch". Der Staat hat weder eine Strategie noch das Geld für die Lösung der Roma-Frage. Und sie kommen aus dem Teufelskreis der Armut nicht heraus: Sie bekommen keinen Job, weil sie ungebildet sind, und Bildung haben sie keine, weil sie zu arm sind. Sanja will ihren Gabriel jedenfalls in die Grundschule schicken, damit er lesen und schreiben lernt. "Wer weiß, vielleicht wird er einmal einen anständigen Job bekommen", sagt sie. (Andrej Ivanji aus Belgrad, DER STANDARD Printausgabe 16.4.2009)