Monika Rotter-le Beau (57) links im Bild ist Leiterin der Apotheke in der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien, wo sie gerade das Projekt Aufnahmemanagement an der Dermatologie und Chirurgie leitet. Die geborene Wienerin ist geprüfte Krankenhausmanagerin und Spezialistin in pharmazeutischem Controlling und Pharmaökonomie.

Barbara Degn (54) ist Ärztin für Allgemeinmedizin und hat ihre Ordination im 21. Bezirkin in Wien. Sie hat Zusatzausbildungen in Psychologie, Palliativmedizin und Substitutionstherapie und ist darüber hinaus Präsidentin der Wiener Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin. Degn ist verheiratet und hat zwei studierende Kinder.

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Welche Dynamik bei Verschreibungen herrscht, fragte Karin Pollack die Krankenhausapothekerin Monika Rotter-le Beau von der Wiener Krankenanstalt Rudolfstiftung und die Hausärztin Barbara Degn

Standard: Wie erklären Sie sich die Vielverschreibungen?

Degn: Ich sehe drei Ursachen. Zum einen lässt die moderne Medizin Menschen immer älter werden, und im Alter entstehen Krankheiten. Zweiter Grund: ein offenes Gesundheitssystem, das auch in Anspruch genommen wird. Medikamente sind ein wichtiger Bestandteil des Systems. Drittens: Information durch Medien, die oft zu mehr Verschreibungen führt. Wenn Patienten verschiedene Ärzte konsultieren, kommen schnell fünf Medikamente zusammen.

Rotter-le Beau: Und wir im Spital sehen dann, was die Patienten, die krank werden, alles einnehmen. In der Rudolfsstiftung läuft das Projekt Aufnahmemanagement durch Apotheker.

Standard: Was genau sehen Sie?

Rotter-le Beau: Dass es Patienten gibt, die ein und denselben Wirkstoff als zwei unterschied-liche Präparate schlucken, also die doppelte Dosis. Dann haben wir beobachtet, dass Medikamente verschrieben werden, die sich in ihrer Wirkung aufheben, und auch, dass Ärzte oft gegen die Nebenwirkungen von Medikamenten noch einmal Medikamente verschreiben. Ältere Patienten schlucken häufig bis zu zehn Tabletten pro Tag.

Degn: Ich erzähle eine klassische Krankengeschichte: Eine Patientin, die sich subjektiv als gesund bezeichnet, schluckt fünf Medikamente - eines gegen den zu hohen Cholesterinspiegel, dann etwas gegen Osteoporose, das aber nur zusammen mit Kalzium wirkt. Die Patientin ist kürzlich vielleicht kollabiert, und deshalb hat ein Internist vorsorglich Kinder-Aspirin als Mittel gegen Gefäßerkrankungen verschrieben, eventuell mit einem Magenschoner, weil sie zu Sodbrennen neigt. All das ist leit- liniengerecht. Wenn die Patientin krank wird, kommen Medikamente dazu, und die Gefahr von Wechselwirkungen potenziert sich.

Standard: Welche Medikamentengruppen werden besonders häufig verschrieben?

Rotter-le Beau: Blutdrucksenker, Diabetes-Medikamente, Lipidsenker gegen zu hohe Cholesterin-werte und Magenschoner, die Protonenpumpen-Inhibitoren (PPI) als Vorbeugung gegen Magenblutungen.

Degn: Und Schmerzmittel jeder Art: NSAR, Paracetamol, Aspirin, sie wirken sich auf den Magen aus, deshalb werden PPIs verschrieben.

Standard: Wer hat den Überblick über alle Medikamente?

Rotter-le Beau: Niemand, das ist ja genau das Problem. Urologe, Augenarzt, Internist oder Dermatologe - alle agieren eigenständig am Patienten. Dazu kommt eine Reihe von Medikamenten, die nicht der Arzt verschrieben hat, sondern die sich Leute in der Apotheke kaufen, und zwar Präparate, über die sie gelesen haben oder die ihnen Bekannte empfohlen haben. Auch diese nicht rezeptpflichtigen Medikamente können zu Wechselwirkungen führen. Das unterschätzen die meisten.

Degn: Ich denke, dass Allgemeinmediziner wieder verstärkt zu Koordinatoren für Patienten werden sollten und dass bei uns die Befunde zusammenlaufen sollten. Wir begleiten die Patienten lange und kennen sie.

Standard: Was machen Sie bei einem Patienten, der neu zu Ihnen kommt und viele Medikamente nimmt?

Degn: Es geht immer darum, Prioritäten zu setzen und zu ermitteln, welche Therapie ein Patient vordringlich braucht. Das geht mit Zeit und Geduld und nur im Dialog mit dem Patienten.

Standard: Und das wird von den Krankenkassen nicht vergütet.

Degn: Genau, das ist Teil des Problems. Es ist sicherlich einfacher, ein Rezept auszustellen, als lange Gespräche zu führen.

Rotter-le Beau: E-Medication, also das Speichern von Medikamentenverschreibungen auf der E-Card, würde die Situation sicher verbessern. Zusätzlich könnten sich Ärzte jener Software bedienen, die es in Krankenhausapotheken ja auch schon gibt und die Wechselwirkungen zwischen Medikamenten aufzeigt.

Standard: Große Verwirrung entsteht auch durch Spitalsaufenthalte. Dort werden Originalpräparate verschrieben, im niedergelassenen Bereich Generika.

Rotter-le Beau: Das verwirrt vor allem ältere Patienten. Sie sind meist auf die Farben der Tabletten fixiert, abgesehen davon sind Medikamentennamen sehr schwer zu merken, und von einem Wirkstoff gibt es ja oft schon sechs oder mehr Produkte am Markt.

Degn: Im Grunde genommen müssten Patienten lernen, in Wirkstoffen zu denken. Doch auch am Arzneimittelmarkt gibt es - was die Bezeichnungen von Medikamenten betrifft - keine einheitlichen Richtlinien. Manche Medikamente heißen so ähnlich wie der ihnen zugrunde liegende Wirkstoff, andere haben Fantasienamen. Es wäre aber sinnvoll, wenn Wirkstoffe klarer auf den Verpackungen stünden. Es wäre eine Orientierung.

Rotter-le Beau: Natürlich wäre auch eine Vereinheitlichung bei den Medikamenten eine Lösung. Das ist aber ein gesundheitspolitisches Problem, das seit Jahren diskutiert, aber von niemandem gelöst wird. Ein Spital hat beim Medikamenteneinkauf andere Konditionen, die wir aus wirtschaftlichen Gründen nützen müssen.

Degn: Was uns wiederum bürokratische Hürden macht, wenn wir Patienten aus dem Spital übernehmen. Wir müssen uns dann um Chefarztbewilligungen kümmern. Die Übergabe funktioniert dank Entlassungsbrief im Vergleich zu früher wirklich gut.

Standard: Ist es möglich, mit mehr als vier Medikamenten gut eingestellt zu sein?

Rotter-le Beau: Jedem, der Tabletten nimmt, muss bewusst sein, dass er damit Wechselwirkungen im Körper hervorruft. Der Mensch ist ja eigentlich nur Chemie, zusätzliche Chemie durch Medikamente hat Auswirkungen. Wichtig ist, dass man Wirkung und Nebenwirkung auseinanderhält und nicht Medikamente gegen die Nebenwirkungen verschreibt.

Degn: Sorgfalt und Geduld sind dabei oberstes Gebot. Medikamente sind immer nur ein Teil einer Behandlungsstrategie, zu der auch Fragen des Lebensstils gehören. Lebensstiländerungen wie gesunde Ernährung oder Bewegung fallen den Menschen aber besonders schwer.

Standard: Und muss man manchmal auch Nebenwirkungen in Kauf nehmen?

Degn: Natürlich, und zwar dann, wenn der Nutzen von einem Medikament höher als die Belastung durch die Nebenwirkungen ist.

Standard: Welche Maßnahmen halten Sie zur Verminderung von Vielverschreibungen für wichtig?

Rotter-le Beau: Aus Krankenhaussicht wird das Entlassungsmanagement vor allem bei älteren Personen immer wichtiger. Das ist eine wichtige Schnittstelle. Im Krankenanstaltenverbund gibt es erste Initiativen in dieser Hinsicht.

Degn: Ich wünsche mir mehr pharmaunabhängige Forschung und Guidelines zu Arzneimittelwechselwirkungen. In Österreich gibt es wenig unabhängige Forschung, das wäre aber eine wichtige Orientierungshilfe. Vieles wissen wir zwar aus Erfahrung, aber mehr Information ist immer gut - vor allem wenn es um die besten Lösungen für Patienten geht. (DER STANDARD Printausgabe, 20.4.2009)