Bild nicht mehr verfügbar.
Der mit Romanen wie "Crash" oder "Liebe und Napalm" bekannt gewordene Autor J. G. Ballard: "Man nimmt eine online bestellte Kalaschnikow in die Hand und feuert sie im Supermarkt leer."
Wien/London - Ende 2004 war es einem Journalisten im Rahmen eines Hausbesuchs in der südlich von London gelegenen Kleinstadt Shepperton vergönnt, den künstlerischen Ausgangspunkt des Autors in Kurzform dokumentiert zu bekommen. J. G. Ballard damals:
"Das Leben an der Peripherie einer Metropole gewährt mir tiefen Einblick in das Wesen des realen England. Die Autobahnzubringer, die Industrieparks, austauschbare, exklusive Wohngebiete, Sport- und Segelclubs an der Themse, Kinozentren, öffentliche Kameraüberwachung, Leihwagenfirmen. Hier kommen Langeweile, paralysierte Anpassungssucht und Lebensüberdruss ins Spiel. Von diesem Druck kann man sich nur durch eines befreien: Gewalt. Man nimmt eine online bestellte Kalaschnikow in die Hand und feuert sie im nächsten Supermarkt leer."
James Graham Ballard wurde 1930 in Schanghai als Sohn britischer Eltern geboren. Er verbrachte ab 1943 zwei Jahre in einem seine klaustrophobische und desillusionierte Ader prägenden, japanischen Internierungslager, später verarbeitet im Roman Empire Of The Sun. Nach der Heimkehr nach England 1946 studierte er Medizin und veröffentlichte ab 1956 klassische Science-Fiction-Stories.
Wofür man J. G. Ballard heute aber vor allem schätzt, sind seine späteren Arbeiten: Crash und Hochhaus oder das 2008 neu als Liebe und Napalm im Wiener Milena Verlag aufgelegte zentrale Werk The Atrocity Exhibition. Sie gehen weit über die Grenzen fantastischer Erzählkunst hinaus. Ballard gilt nicht nur als "Meister der Apokalypse". Er erweiterte die enge literarische Ausgangsform frühzeitig von der Utopie hin zur Dystopie. Im Mittelpunkt seines stilistisch knappen, rasanten und keinerlei psychologische Innensicht duldenden, heute nach wie vor modernen Erzählstils steht eine erbarmungslos Richtung Überwachungs- und Endzeitstaat gerutschte Zivilisation am Rande der Zukunft. Diese will nicht mehr zwischen Fiktion und Realem unterscheiden. Auch weil öffentlich geduldete Drogen zuweilen beschwichtigen helfen.
Der manische Beobachter von Massenmedien, speziell des Fernsehens, von dem er behauptete, dass sich zur Welterfassung ein täglicher Mindestkonsum von drei bis vier Stunden empfehle, um der "Wirklichkeit" auch nur ansatzweise beikommen zu können, verhandelt mit kalter, chirurgischer Präzision den Niedergang sämtlicher abendländischer Ideengeschichten. Devianz und Fetischkultur sind Leitmotive. In seinen "inneren Landschaften" haben humanistische Chimären wie Eigenverantwortung, Selbstbestimmung oder Erlösung nicht den Funken einer Chance. Es geht um pornografisch missverstandene Begierden und Perversionen, die keine Erfüllung dulden.
Nichts geht mehr
Das System bestimmt die Funktion seiner Erhalter und Zuträger. Ich- und Dingwelt gehen etwa im Roman Crash bizarre entpersonalisierte Verhältnisse ein, in denen eine "mobile Gesellschaft" (wir schreiben das Jahr 1973) im absichtlich herbeigeführten Autounfalltod zum letzten Höhepunkt gelangt. Der letale Frontalzusammenstoß. Nichts geht mehr. Wir lesen unemotional geschilderte Prosa aus der Notaufnahme.
Kein Wunder, dass der im deutschen Raum lieblos als Trash-Autor edierte J. G. Ballard neben den Drogen- und Cut-up-Visionen eines William S. Burroughs als Leitstern der Popkultur fungiert. Von David Bowie über Joy Division bis zu Radiohead, alle berufen sich auf sein Werk. Steven Spielberg oder David Cronenberg schließlich verfilmten seine Stoffe. Am 19. April ist Ballard 78-jährig in London einem Krebsleiden erlegen. (Christian Schachinger, DER STANDARD/Printausgabe 21.4.2009)