Andrei Markovits

foto: DER STANDARD/Freund

Andrei Markovits, Politologe an der University of Michigan in Ann Arbor, derzeit Gastprofessor auf Harvard, hat sich in zahlreichen Arbeiten mit innereuropäischen Problemen und dem transatlantischen Verhältnis auseinandergesetzt. Seine Vertrautheit mit dem neuerdings so genannten alten und neuen Europa als auch mit den USA hat biografische Gründe: Kindheit in Rumänien, Schulzeit in Österreich, seit dem Studium in seiner nunmehrigen Wahlheimat. Für unsere Serie zieht er eine differenzierte persönliche wie politikwissenschaftliche Bilanz.

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Freund: Auf welchen Ebenen kann man von einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Europa und den USA sprechen?

Markovits: Absolut auf der Ebene der politischen und der publizistischen Klasse, da ist es ja immer stärker zu spüren. Auf jeden Fall inside the beltway, also in den Washingtoner Regierungskreisen, von Condoleezza Rice abwärts. Doch in der Allgemeinheit, beim so genannten Mann auf der Straße - das bestätigen die Umfragen – sind die Irritationen nicht so tief, nicht unwiderruflich, mit Ausnahme den Ressentiments gegenüber Frankreich. Soweit zur amerikanischen Seite. Auf der europäischen kann man eine Aversion gegen alles, was Amerika betrifft, feststellen, die weit über die schon vorher konstanten Vorurteile hinausgeht. Die Intensität und weitgehende Akzeptiertheit des gegenwärtigen Anti-Amerikanismus in Europa hat sogar mich, alten Haudegen des Geschäfts, überrascht.

Freund: Seit wann kann man von einem Anwachsen des Problems sprechen: seit dem Ende des Ostblocks, dem Beginn der jetzigen Bush-Regierung, oder reicht es weiter zurück?

Markovits: Die Antworten auf alle drei wäre: ja. Die Bush-Regierung hat das Problem in den Overdrive gebracht, durch ihre konfrontative Methode, ihren gezielten Unilateralismus. Er ist eben in den Augen der Europäer der ideale Amerikaner, der Cowboy – wobei Josef Joffe von der Zeit gut herausgearbeitet hat, dass das Bild des Cowboys von den Europäern – wie so vieles ueber Amerika – massiv und willentlich missverstanden wird. Davor gab es einen strukturellen Overdrive: Amerika war bis 1989 für einige Teile Europas Befreiungsmacht, für andere Besatzungsmacht, und Schutzmacht obendrein: Für die Deutschen waren die Amerikaner alles auf einmal. Als Befreiungsmacht waren sie für die Franzosen wichtig, zumindest bis in die Sechzigerjahre, bis de Gaulle. Wichtig auch für die Italiener. Und das ist alles weg. Man braucht keine neue Schutzmacht, im Gegenteil, man könnte argumentieren – und Meinungsumfragen belegen dies –, dass für viele Europäer die USA heute weder Befreiung noch Schutz bedeuten, sondern Bedrohung. Aber wie wir aus geschichtlicher Erfahrung wissen: Allianzen fallen aus zwei Gründen auseinander. Erstens, weil sie ein Misserfolg sind, zweitens, weil sie ein Erfolg sind. Die NATO war eine Erfolgsgeschichte, und gerade deswegen muss sie in etwas Neues übergeführt werden und zeigt Auflösungstendenzen. Daher ist eine neue Konstellation nicht nur vorstellbar, sondern von vielen sogar erwünscht, auf beiden Seiten des Atlantiks. In internationalen Beziehungen sieht man oft, dass, wenn einer besonders groß wird, die Zweiten und Dritten zu paktieren beginnen, um dem Großen besser zu begegnen bzw. um selber groß zu werden. Das ist alles nicht Neues. Die Achse Paris-Berlin-Moskau ist als eine solche Gegenmacht zu Washington gedacht.

Freund: Es gibt auch die Ebene der gegenseitigen kulturellen Wahrnehmungen und Vorurteile. Wie stark sind die, in beide Richtungen, zu spüren?

Markovits: Das kann man nicht definitiv sagen. Aber, wie ich einmal geschrieben habe, der Antiamerikanismus fing am 5. Juli 1776 an, am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung. Im 19. Jahrhundert – das sagen u.a.die beiden Bestseller in Frankreich von Jean-Francois Revel und von Philippe Roger – war Amerika wie ein zweischneidiges Schwert. Konservative wie Nikolaus Lenau haben bemängelt, dass es in den Staaten keine Lerche, keine Singvögel gibt. Werner Sombart stellte 1906 fest, in Amerika zähle nur Geld und das Kommerzielle, und er fand das damals modern und gut, obwohl er es später in seinem Leben zu einem massiven Anti-Amerikanismus und Antisemitismus mutierte. Für die konservativen Eliten in Europa war Amerika etwas Vulgäres und zugleich Furchterregendes. Dass Amerika kulturlos sei, hört man ja bis heute. Das ist standard rap. Bei den Nazis war das so, in den Fünfzigerjahren war es wieder so, immer wieder im übrigen gekoppelt mit dem Topos des Antisemitismus. Die Linken sind ein interessanter Sonderfall. Anfänglich zum Beispiel waren die französischen Republikaner, sehr pro-amerikanisch. Marx war sehr pro USA, er sah ihre bürgerliche Revolution als Schritt auf dem Weg zur sozialistischen Revolution. In den Zwanzigern war die deutsche Linke auch sehr auf dieser Linie. Bei den radikalen Linken wurde das schon damals in Frage gestellt, und erst recht natürlich nach dem Zweiten Weltkrieg von den Kommunisten. Das Thema spaltete auch Parteien, etwa in Italien, wo die Nenni-Sozialisten gegen, die Saragat-Sozialisten für die Vereinigten Staaten waren. Die SPD war noch unter Schumacher kritisch gegenüber den USA, unter Brandt ändert sich das, Stichwort Godesberger Programm. Zur Zeit der Proteste gegen den Vietnamkrieg gab es eine Art Vierteilung der Linken in Deutschland, in Westler (die, wie Joschka Fischer, schon ab 1973/74 sich eher an Dylan als an Marx orientiert haben; Linke, die die liberalen Freiheiten höher bewerteten als Kapitalismuskritik), orthodoxe Marxisten, Dritt-Weltler (also ungefähr den Fundi-Grünen entsprechend) und Neo-Nationalisten (die jetzt stark präsent sind und sich auf Vorbilder wie Dutschke berufen, der tatsächlich Elemente eines Nationalismus an sich gehabt hat). Letztere sind heute zum Teil entweder in der NPD oder in der PDS. Ich habe versucht, auf irgendwelche soziologischen oder sonstigen Variablen zu kommen, die diese Präferenz vorhersagen helfen würden, aber es ist mir nicht gelungen – da dürften individuelle, lebensgeschichtliche Momente eine viel entscheidendere Rolle gespielt haben. Ähnliche Gruppierungen gibt es auch in anderen europäischen Ländern. Was die Amerika-Kritik anbelangt: Die ist bei den Westlern eine ganz andere als bei den Nationalisten aller Prägungen oder den Tiers-Mondisten. Letztere gingen in den letzten zehn Jahren überwiegend ins Lager der Globalisierungsgegner. Und Globalisierung heißt ja in ihrem Verständnis nichts anderes als Amerikanisierung. Wobei das merkwürdig ist – ich habe noch nie jemanden bei einer Globalisierungsdemo gesehen, der eine Schweizer oder eine deutsche oder sonstige Fahne verbrannt haette, obwohl Firmen aus diesen Ländern ebenso global agieren wie US-Unternehmen, Vivendi, LMVH, Nestlé, was auch immer.

Freund: Wie ist es mit den Anti-Europa-Gefühlen in den USA? Mein Eindruck ist zum Beispiel, dass auch die „aufgeklärteren“ Amerikaner, wenn sie sich zu Frankreich äußern, dies mit einem Unterton des Amusements, des Spotts tun. Da wird dann ein halber Satz eines französischen Intellektuellen zitiert, der auf ersten Blick tatsächlich unverständlich ist, und mit der Haltung quittiert: There you have it, das sind ja Narren, diese Franzosen, die kann man eh nicht ernst nehmen.

Markovits: Also die allgemeine amerikanische „Volksmeinung“ couldn’t care less. Frankreich ist ihnen egal. Das ist nicht anti irgendwas oder unterschwellig, es ist ihnen einfach egal. Europa insgesamt ist fern. Natürlich gibt es Momente, wie der jetztige, wo es auch im Volk eine Irritation Frankreich und den Franzosen gegenueber gibt. Letterman und Leno haben dieser Tage angefangen, sich massiv ueber die Franzosen lustig zu machen. Ich habe Umfragen hier über Deutschland durchgeführt, und die Resultate waren konstant pro-deutsch; bei Frankreich herrscht viel weniger Zuneigung, bei England am meisten, mehr noch als bei Kanada. England ist das einzige Land, für das – wieder laut Umfragen – die Amerikaner jederzeit in einen Krieg ziehen würden.

Freund: Und bei den veröffentlichten Meinungen, also den intellektuellen Debatten?

Markovits: Also im Herbst gab es eine Anzahl anti-amerikanischer Bücher auf den französischen Bestseller-Listen – und langsam haben das die Amerikaner mitbekommen. Abgesehen nämlich von der kurzen Zeit nach der französischen Rezeption des Gulag Archipels von Solschenizyn, Ende der Siebzigerjahre, als es eine Welle der Sympathie für den Westen und Angst vor dem Osten gab, abgesehen von dieser Zeit herrschte in der französischen Intelligentsia immer eine anti-amerikanische Haltung vor. Die Situation wird noch etwas komplizierter, wenn man bedenkt, dass in den intellektuellen, akademischen Zirkeln Amerikas Frankreich ausgesprochen cool ist, vor allem in den Human- und Sozialwissenschaften. Und Europa insgesamt gilt als besser: der Sozialstaat, der besser ist, die Zugverbindungen, die auch besser sind ...

Freund: ... aber ist das falsch?

Markovits: Nein nein, das ist schon in Ordnung, damit hab ich keine Probleme. Es soll ja auch nur zeigen, dass es tatsächlich keine negativen Gefühle gegenüber der Alten Welt in der liberalen Academia gibt. Übrigens kann man da differenzieren, und zwar hab ich mir eine Art 08/15-Pop-Soziologie zurechtgelegt: Die US-akademischen Intellektuellen, die sich zumindest auch amerikanische Filme anschauen und nicht nur Jean-Luc Godard im Original und als Director’s Cut, sind im Durchschnitt weniger dogmatisch pro-europäisch. Filme und Popmusik also als brauchbare Prädiktoren.

Freund: Andrew Bacevich (vgl. Teil 1 dieser Serie) sprach im Zusammenhang mit dem amerikanischen Imperium von einem „neuen Jerusalem“, einem messianischen Bedürfnis, den Himmel auf Erden auszurufen. Was ist davon zu halten?

Markovits: Also ich halte das für völlig verfehlt, wenn es als amerikanische Eigenheit gesehen wird. Jede Großmacht hat das in gewissem Ausmaß gehabt: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Oder die mission civilisatrice der Franzosen. Oder Little England überall – alle haben so etwas vor sich hergetragen. Es gibt natürlich auch in der amerikanischen Geschichte ein Bewusstsein, dass „wir die Besseren sind“, besser als die Alte Welt. Aber das hat sich eher isolationistisch geäußert als messianisch: Es gibt eine city on a shining hill, und to hell with the Europeans. In den Fünfzigern lebte das Gut-vs.-Böse-Bewusstsein gegenüber der Sowjetunion auf, und jetzt sind die Bösen die Schurken, die Achse des Bösen.

Freund: Wird diese Mentalität nach der Bush-Regierung schwächer werden?

Markovits: Das Phänomenale an Bush ist, dass er eigentlich genau mit dem Gegenteil angetreten ist. Er kam ja vom isolationistischen Flügel der Republikaner und hatte mit Dingen wie Nation-building nichts im Sinn. Er stand der Ideologie eines Pat Buchanan nahe, der eine Festung Amerika als Vision hat, die sich von der Welt abschottet. Aber wenn es den Bush nicht gäbe, und wenn die USA alles gemacht hätte, was Europa gerne hätte – und was ich auch richtig finde: also Kyoto-Protokoll, internationaler Gerichtshof usw. -, wären die Irritationen trotzdem genau so groß. Und zwar, weil sie strukturell sind: Da sind zwei ebenbürtige Wirtschaftsmächte – wobei einer ein militärischer Zwerg ist, was die bereits vorhandenen Irritationen beiderseits nur noch erhöht. Dieses Ungleichgewicht wird es geben, egal ob Bush, Clinton oder sonst wer an der Macht ist. Bush ist halt eine wunderbare Feindfigur, weil er den ugly American so gut verkörpert. Aber der Große wird ueberall gehasst, und man freut sich, wenn ihm etwas zustößt: Ob dies in der Schulklasse oder in der Weltpolitik passiert, es ist dasselbe Phänomen.

Freund: Welche Rolle spielt der immer noch anwachsende europäische Widerstand gegen den bevorstehenden Irak-Krieg im Bewusstsein der Amerikaner – inside the beltway und draußen beim so genannten Mann auf der Straße? Wie wird er überhaupt wahrgenommen?

Markovits: Mit Irritation bei Otto Normalverbraucher, besonders was Frankreich betrifft; bei Deutschland und Russland viel weniger. Mit Genugtuung bei den Intellektuellen und den eggheads. Man muss aber dazu sagen, dass auch viele Amerikaner den europäischen Widerstand gegen die amerikanische Irakpolitik genau ins richtige Rampenlicht rücken: dass dies nichts mit der vermeintlichen moralischen Überlegenheit der Europäer und ihrer angeblichen Friedensliebe zu tun hat, sondern mit reiner Machtpolitik, in der die Russen und Franzosen ihre Multimilliardengeschäfte mit dem Irak fuer sich beanspruchen moechten und vor allem, dass die Europaer die Krise als einen Anlass dafür nehmen, ihre eigenen Macht Amerika gegenüber auszubauen und zu behaupten. Ergo die Achse Paris-Berlin-Moskau. Die wäre auch ohne Irak früher oder später gekommen, Jetzt ist sie halt früher da.

Freund: Was ist für einen oft zwischen Europa und den USA hin und her Reisenden das Angenehme bzw. weniger Angenehme in den beiden Kulturen?

Markovits: Je älter ich werde, desto mehr gehen meine Präferenzen in Richtung USA – wo ich allerdings auch seit über 30 Jahren lebe. Wenn ich hier bin, vermisse ich eigentlich nichts an Europa außer ein paar gute Freunde, die mir abgehen. Die USA waren schon seit meiner Kindheit in Rumänien mein spirituelles Zuhause, Jahre bevor ich als Teenager nach New York auswanderte.Was sonst? Ach ja, die Züge, die gehen auch mir ab, die sind wunderbar drüben. Aber dies wäre schon alles.

Freund: Und umgekehrt, was ist in den USA besser?

Markovits: Für mich eigentlich alles. Konkret: Ich finde es gut, dass man hier in Lokalen nicht rauchen darf; drüben kann ich ein gutes italienisches Essen nicht genießen, weil die Luft so schlecht ist – außer vielleicht ich gehe in ein vegetarisches Restaurant, aber da kann ich wiederum nicht essen, was ich will. Ich bin nicht sicher, ob man hier im Schnitt freundlicher ist – wahrscheinlich schon. Und ich freu mich, dass ich hier überall, wenn ich in ein Auto steige, genau die Musik aus dem Autoradio hören kann, die ich hören will.  (ALBUM/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16.3.2003)