Sicher wollte die ehemalige Bundespräsidentschaftskandidatin der deutschen Sozialdemokraten Gesine Schwan ein gutes Beispiel geben, als sie erzählte, dass sie ihre Kleider vorwiegend in Second-Hand-Läden kaufe. Aber was ist, wenn das alle machen? Was passiert dann mit dem ersten Markt? Ob eine Moral des Verzichts überzeugen kann, hängt vom Kontext ab. Aus Sicht des einzelnen Haushalts kann Second-Hand-Shopping sinnvoll sein, aber eine Second-Hand-Wirtschaft fährt binnen kurzer Zeit an die Wand.

Das Beispiel führt vor Augen, dass wir es ständig mit zwei grundverschiedenen Sphären zu tun haben: auf der einen Seite die Lebenswelten der Menschen, auf der anderen Seite die Systeme, etwa Produktmärkte und Finanzmarkt. Mit den Begriffen „Lebenswelt" und „System" lehne ich mich an Jürgen Habermas an, der damit seinerseits eine lange soziologische Tradition fortsetzt.
Wir alle sind so an die Verzahnung von Lebenswelt und System gewöhnt, dass wir die Zweidimensionalität unseres Alltags meist völlig vergessen. Man lebt in seiner Wohnung, hat Familie, trifft sich mit Freunden, geht einkaufen, arbeitet und führt den Hund spazieren. Aber wenn man sich dabei für ein, zwei Euro eine Currywurst kauft, denkt man nicht daran, dass dies nur möglich ist, weil gleich mehrere große Räderwerke weit jenseits des persönlichen Erfahrungshorizonts zusammenwirken: etwa der Lebensmittelmarkt, das Transportwesen, die Kontrollbehörden. Die Abhängigkeit der Currywurst von Systemen würde Konsumenten schnell klar, wenn auch nur eines davon versagte, etwa die EZB, sollte sie mit ihrer Geldpolitik eine Hyperinflation anheizen.

In der Lebenswelt kennt jeder jeden, in den Systemen herrscht Anonymität; in der Lebenswelt kann jeder Einfluss nehmen, in den Systemen führen die Experten; die Lebenswelt erfährt man unmittelbar, über die Systeme liest man etwas in der Zeitung; die Lebenswelt betrifft den ganzen Alltag, die Systeme haben sich auf jeweils einen Hauptzweck spezialisiert.
Moralischer Umkehreffekt

Wir leben also in zwei Welten, sind aber nur für eine kognitiv ohne besondere Vorbereitung ausgerüstet: Die geistigen Mittel, die wir brauchen, um uns in der Lebenswelt zu bewegen, sind uns teils in die Wiege gelegt, teils erwerben wir sie im Alltag. Um dagegen mit den Systemen klarzukommen, müssen wir in jeder Generation von neuem nachlernen. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass Systeme in vieler Hinsicht unserer lebensweltlich geschulten Intuition zuwiderlaufen. Wer sie verstehen will, muss seine alltäglichen Wahrnehmungsmuster gegen den Strich bürsten.
Von allen Systemen nun, mit denen wir es zu tun haben, ist die Wirtschaft besonders schwer zu durchschauen.

Es beginnt mit dem Einkaufen. In der Lebenswelt spart man Geld, wenn man nur gebrauchte Kleider kauft, im System hat dies den Niedergang der Textilbranche zur Folge. Umgekehrt kann Geldausgeben im System zur multiplen Geldvermehrung führen. Die Befremdung unserer Alltagserfahrung setzt sich fort mit dem Teilen und Verteilen: In der der Familie kommt man am besten mit einer Art friedlichem Kommunismus aus, doch im Wirtschaftssystem haben sich Privateigentum und Markt als weit überlegen erwiesen.

Besonders schwer zu verstehen ist die entgegengesetzte Bedeutung von Knappheit: In der Lebenswelt ist Mangel ein Problem und Sättigung ein erstrebenswerter Zustand, im System ist es umgekehrt - ungestillte Bedürfnisse sind aus der Systemperspektive ökonomische Ressourcen, Bedürfnislosigkeit aller wäre der Ruin.
Von allen Unterschieden zwischen Lebenswelt und Wirtschaftssystem ist der moralische besonders schwer nachzuvollziehen. In der Lebenswelt rangiert Altruismus vor Eigennutz, zu Recht. In der Wirtschaft dagegen (vorausgesetzt, sie ist gut geregelt) geht es allen umso besser, je egoistischer sich jeder einzelne Akteur verhält.

Wie die Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren gezeigt hat, macht eine scheinbar altruistische Wirtschaftspolitik alles kaputt. Schutzmaßnahmen jeder Art, etwa Zölle, Subventionen, Mindestpreise oder extensiver Kündigungsschutz schaffen, was sie vermeiden sollen: Zerstörung. Wer den Satz akzeptiert, dass die Lebenswelt auf eine prosperierende Wirtschaft angewiesen ist, kann sich kaum der Einsicht entziehen, dass der lebensweltlich beste Wille im System schnell zum schlechtesten Ergebnis führt. Lebensweltliche Moral kann auf der Systemebene in Unmoral umschlagen, und umgekehrt kann im System moralisch geboten sein, was in der Lebenswelt unmoralisch erscheint. 

In diesen wenigen Sätzen ist das Gespräch von Denkern aus mehr als zweihundert Jahren zusammengefasst. Um nur die wichtigsten zu nennen: Adam Smith als Begründer der Volkswirtschaftslehre; die Tradition des Pragmatismus und Utilitarismus der schottischen Moralphilosophen; John Steward Mills' Philosophie der Freiheit; nicht zuletzt, um das Reizwort der Ahnungslosen zu zitieren, die Neoliberalen. Walter Eucken etwa, Wilhelm Röpke, Karl Popper, Ludwig Erhard und andere haben gerade nicht für die hirnlose Entfesselung des Raubtiers gekämpft, sie wollten es bändigen.

Sie alle waren umgetrieben von der potenziell destruktiven Kraft des Egoismus. Moralisch zu rechtfertigen ist Egoismus nur dann, wenn er nicht nur dem einzelnen nützt, sondern auch allen anderen. Aber es liegt in der Natur des Egoismus, dass der Nutzen für die anderen leicht auf der Strecke bleibt. Systeme laufen manchmal aus dem Ruder und verwandeln sich in menschenfeindliche Monster. Dies zu verhindern ist das Anliegen der zu Unrecht gescholtenen Neoliberalen. Keiner von ihnen wendet sich gegen die Gier, denn sie halten es für naiv, das System mit den Mitteln der Lebenswelt kurieren zu wollen. Ihre Werkzeuge sind nicht Bußpredigten und Verzichtsappelle, sondern Regeln, Strafrecht, Kontrolle, Anwendung bestehender Vorschriften, gutes Denken. 

Eine Art Blitzableiter

Durch die Weltwirtschaftskrise werden die Neoliberalen nicht widerlegt, sie werden bestätigt. Seht ihr, könnten sie sagen, soweit kommt es eben, wenn man den Markt vor die Hunde gehen lässt. Ihr habt euch systemwidrig verhalten. Ihr habt zugelassen, dass die Transparenz des Finanzmarkts unterminiert wurde, und ihr habt Finanzmarkt und Produktmarkt voneinander getrennt ...

Vielen Menschen erscheinen Systeme kalt, undurchschaubar, zerstörerisch, unmenschlich und ästhetisch so ansprechend wie ein Autobahnknotenpunkt. Wie schön ist dagegen die Lebenswelt: warm, gemütlich, vertraut und betörend wie der Geruch von selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen. Die Lebenswelt liebt man, die Systeme benutzt man. Man muss sie ja nicht lieben. Aber es ist mit ihnen wie mit den Autobahnknotenpunkten: Wenn man sie abschafft, ist es die Lebenswelt, die den Schaden hat. 

Was ist aber nun mit jener bekannten Szene im entführten, glutheißen Flugzeug von Mogadischu, wo ein Mann seiner Frau blitzschnell den kostbaren Becher Orangensaft wegtrank? Sollen die Hauptverantwortlichen der Finanzkrise etwa von einem Vorwurf entlastet sein, der diesen Mann zu Recht trifft? Keineswegs, nur ist ihnen dieser Vorwurf herzlich egal. In der Lebenswelt fühlt man sich von der Empörung des anderen getroffen, denn man steht ihm gegenüber. Im System sind die anderen zu weit weg. Ihre Interessen lassen sich nur von außen einbringen. Gefragt ist Politik.
Mit Bußpredigten kommt man Systemen nicht bei.

In der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise fungiert der Vorwurf der Gier bloß als eine Art Blitzableiter. Man wird damit Aggressionen los, sieht sich auf der Seite der Guten und hat das schöne Gefühl, die Welt zu verstehen. Ein ähnliches Phänomen gibt es auch in der Medizin; Ärzte sprechen in diesem Zusammenhang vom Kausalitätsbedürfnis der Laien. Patienten wollen einen Namen für ihre Symptome. Durch Etikettierung mit einem Krankheitsbegriff entsteht ein Gefühl des Begreifens, das heilend wirken kann, so falsch der Begriff vielleicht sein mag. Analog lässt sich die Diagnose „Gier" als ein entlastender moralischer Pathologisierungsreflex verstehen. Doch anders als in der Psychosomatik gibt es in der Ökonomie keinen Placeboeffekt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26.4.2009)