
Wir sind längst ein Kontinent von Einwandererländern geworden, wir müssen die Veränderungen, die dadurch entstehen, gestalten, bevor sie uns überwältigen. Bild: Gerhard Gepp
Teil eins der neuen Europa-Essay-Serie.
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Nicht weit von meiner Wohnung, mitten in einem Wiener Einwandererbezirk, hat jemand Angst. Die Fenster im Hochparterre eines historistischen Hauses mit Stuck, ornamentalen Figuren und gemauerten Steinquader-Imitaten sind weiß vergittert. Hinter den Fenstern erkennt man Tüllgardinen, ewig gleiche Plastikblumen und, auf dem mittleren Fenster, mit Fingerfarben aufgemalte Weihnachtsdekorationen: einen Schneemann, einen lustigen, dicken Weihnachtsmann, einen Christbaum. Draußen dreiundzwanzig Grad im Schatten, Frühling.
Vor zwei der drei vergitterten Fenster hängt jeweils eine kleine, vom vielen Verkehr längst ergraute österreichische Fahne, aufragend und trotzig.
Kontinent der Ängstlichen
Da ist sie: die Festung Europa. Umbrandet von fremden und bedrohlichen Völkerscharen zieht sich ein Kontinent zurück hinter die würdige Fassade einer großen Geschichte, und hinter die eigene Tüllgardine - auch wenn im Innern nur noch Plastikblumen blühen. Die kollektiven Hoffnungen und Utopien sind längst verdorrt. Nationalismus und Sozialismus, Imperialismus und Kommunismus, die freie Liebe und kürzlich der freie Markt - sie alle haben spektakulär Schiffbruch erlitten und uns mit einer profunden Skepsis gegenüber jeder großen Idee zurückgelassen. Nach all den gescheiterten Träumen wissen wir, dass die Zukunft nichts Gutes bringen kann, nicht für unsere Pensionen und für das Gesundheitssystem, nicht fürs Ersparte.
Die einzige Perspektive ist, das zu behalten, was uns jetzt (noch?) gehört.
Erstaunliche Utopie
Europa ist ein Kontinent der Ängstlichen geworden, gelähmt vom Blick auf die uns entgegenrasende Zukunft. Dabei leben wir mitten in einer erstaunlichen Utopie: Auf eine nüchterne, unideologische Art hat ein Kontinent voller Todfeinde und Kriegstraumata beschlossen, gemeinsam eine andere Zukunft zu schaffen und dafür eine Struktur zu erfinden, die dem alten, nationalstaatlichen Modell eine höfliche Absage erteilt.
Im Zeitalter des Internet ist dieses Europa ein Netzwerk von Mächten, Bevölkerungen und Märkten, von Herausforderungen und Werten - kein Superstaat, aber trotzdem mehr und anders als nur ein Vertragsbündnis souveräner Staaten.
Ich bin bekennender Europäer, aber ich fürchte, dass wir im Begriff sind, das großartige Projekt Europa zu erwürgen. Heute wird alles Europa genannt, was in Wahrheit Fantasielosigkeit und Statusverteidigung ist. An einem historischen Augenblick, in dem durch eine Krise die Möglichkeit besteht, europäische Werte im globalen Kontext zu formulieren, überlassen europäische Politiker nur allzu gerne dem charismatischen Barack Obama das Rampenlicht, wie so oft sollen die USA für Europa Maßstäbe setzen.
Während wichtige Entscheidungen über die Welt von morgen in Washington getroffen werden, streitet sich Europa - noch vor wenigen Monaten vereint in moralischer Entrüstung über die Behandlung der Häftlinge von Guantánamo - darüber, ob sich unsere Länder leisten können, eine Handvoll ehemals dort inhaftierter Menschen aufzunehmen, gegen die nie Anklage erhoben wurde und für welche die Unschuldsvermutung gilt. Großzügigkeit ist gefährlich, Prinzipien nur so lange recht, wie sie auch billig sind.
Hinter vergitterten Fenstern sitzen Herr und Frau Europa, ein Pensionisten-Paar, und lugen ängstlich in die böse, weite Welt.
Auf der Straße jenseits der Tüllgardinen gehen Menschen, die andere Sprachen sprechen und die sich irgendwie nicht einfügen wollen. Ihre bloße Anwesenheit wird hinter den Gittern als Bedrohung wahrgenommen, denn ein Stück weit ist jeder von ihnen unter dem Generalverdacht, unter dem die Häftlinge von Guantánamo stehen. So wachsen Parallelgesellschaften.
Veränderungen gestalten
Der niederländische Soziologe Paul Scheffer schreibt, Europa könne es Migranten abverlangen, seine Werte zu erlernen und ihnen gegenüber loyal zu sein - allerdings nur, wenn die europäischen Gesellschaften selbst diese Werte kritisch auf ihre Tragfähigkeit und Offenheit hin abklopfen, eine Offenheit, die minimale Gemeinsamkeiten definiert und dabei Unterschiede zulässt.
Wir sind längst ein Kontinent von Einwandererländern geworden, wir müssen die Veränderungen, die dadurch entstehen, gestalten, bevor sie uns überwältigen. Wenn wir die Gelegenheit verpassen, die europäische Gemeinschaft zu dynamisieren und handlungsfähiger zu machen, werden die Europäer zu argwöhnischen Fensterguckern, zu Archivaren und Hausmeistern in einem Museumskontinent, herausgeputzt für Touristen aus der neuen Welt.
Europa, eine feste Burg? Hinter den Gittern meiner ängstlichen Nachbarn steht ein Fenster einen vorsichtigen Spalt weit offen, um die Frühlingsluft einzulassen. Ein gipserner Musenkopf überblickt vom Fenstersturz die Straße, auf der eine türkische Familie spazieren geht. Vor dem Gebäude steht ein alter VW-Bus mit Dachgepäckträger, am Rückspiegel ein Talisman aus Plüsch. Vielleicht ist das ihr Fluchtauto. (DER STANDARD, Printausgabe, ALBUM, 25.4.2009)