Shi Ming sieht Chinas Politik durch Medien unter Druck.

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Die politische Führung in Peking entdeckt die Kunst der Manipulation. Statt zu unterdrücken, versuche man die Medien zu steuern, sagt der chinesische Journalist Shi Ming zu Ben Cannon und Julia Raabe. Das gilt auch für die Zensur im Internet: Ein Heer von bezahlten Schreibern flankiere 50.000 Netz-Polizisten. 

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STANDARD: Menschenrechtsaktionsplan, Medieninitiative, eine zweite englischsprachige Tageszeitung - sind das Anzeichen für eine neue Offenheit in China?

Shi Ming: Die chinesische Führung setzt immer mehr auf PR-Aktionen, dazu gehört auch, dass China mit ein chinesisches CNN weltweit aufziehen will. Seit den Olympischen Spielen - auch vorher, bei den Tibet-Unruhen - hat man erkannt, dass die westlichen Medien China sehr schnell hart treffen können. China ist beim Aktienhandel stark beteiligt - da ist die Stimmung sehr wichtig. Die wird von den Medien beeinflusst. Bisher war die Politik immer der Gestalter, sie befahl der Öffentlichkeit, sich in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Plötzlich merkte man, das geht international nicht. Und plötzlich haben auch chinesische Politiker entdeckt, diese Art der Politik für sich zu machen.

STANDARD: Also eher Kosmetik - ohne strukturelle Veränderungen?

Shi Ming: Von der Absicht her, ja. Auf Seiten der Entscheidungszirkel. Was in der chinesischen Presse heute passiert, geschieht viel außerhalb der Möglichkeiten der chinesischen Politikgestaltung. Die Kleinanleger zum Beispiel: Während der Olympischen Spiele waren die chinesischen Medien so aufgepeitscht, dass es kaum einer wagte, ein negatives Thema anzuschneiden. In einem der wichtigsten Diskussionsforen, das direkt an das Parteiorgan angeschlossen ist, beklagten sich die Kleinanleger lauthals über den Börsencrash. Sie kümmerten sich einen feuchten Dreck um die Olympischen Spiele. Zum ersten Mal musste die Partei in diesem ihren Machtorgan so etwas zulassen. Da wägt man ab, es ist viel opportuner, diese Welle zu kanalisieren als sie zurückstauen zu lassen. Zumal die Führung die Presse auch braucht in ihrem Kampf gegen Korruption. So kommt die chinesische Politik in Bewegung.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Internetzensur?

Shi Ming: Zuerst werden Informationen zensiert, die keinesfalls an die Öffentlichkeit kommen dürfen, wie zum Beispiel Verhaftung von tibetischen Mönchen. Dann gibt es die Zensur von Themen, denn wenn bestimmte Informationen Thema werden, kommen ganze Wissenssysteme hinzu. Das gelingt immer weniger. Dann gibt es die Zensur von Meinungen, das geschieht aber immer weniger, weil die städtische Gesellschaft heute in sehr konträre Interessengruppen zerfällt. Es gibt nicht mehr den einen Mainstream. Die Lenkung der Meinungen ist also eine weitaus wichtigere Seite. Reporter ohne Grenzen schätzt die Zahl der aktiven Polizisten im Internet auf circa 50.000, aber wir haben weitaus mehr so genannte Schreiber. Die Situation ist also nicht nur repressiv, sie ist genauso - und vielleicht noch mehr - manipulativ.

STANDARD: Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens jährt sich, wie der Mauerfall, zum 20. Mal. Ist das noch präsent in der Öffentlichkeit?

Shi Ming: Es gibt eine Präsenz durch Tabu. Was vehement tabuisiert wird, wird immer präsenter. Insofern ist die schweigende Präsenz für die Führung eine große Gefahr. Da gibt es Gerüchte, Anspielungen. Eine Frau in Peking hat Ende März einen Vorschlag gemacht: Wir sollten die Wahrheitskommission in Südafrika genauer unter die Lupe nehmen. In der ersten Fassung ihres Vorschlags im Internet hat sie über Tiananmen kein Wort verloren, aber jeder weiß, worauf sie anspielt. Und plötzlich gibt es eine Diskussion außerhalb Chinas, dann auch innerhalb Chinas in gewissen Zirkeln. Diese Anspielungen werden immer fruchtbarer. Gegen die zu kämpfen ist ein Ding der Unmöglichkeit. (DER STANDARD; Printausgabe, 29.4.2009)