
ZUR PERSON: Hubert Vedrine (61) war außenpolitischer Berater, Sprecher und ab 1991 Generalsekretär von Präsident Mitterrand. Von 1997 bis 2002 diente er im Kabinett Jospin als Außenminister.
STANDARD: Frankreich hatte seit Anfang der 1980er-Jahre über seinen Geheimdienst DST und den Superspion Farewell tiefen Einblick in sowjetische Interna. Wie schätzte Präsident Mitterrand die Lage 1989 eint?
Vedrine: François Mitterrand stellte sich schon seit 1981 (seit seinem Amtsantritt, Anm.) auf eine Schwächung der UdSSR und auch auf eine Wiedervereinigung Deutschlands innerhalb der nächsten 15 Jahre ein. Er hat es Helmut Schmidt im November 1981 so gesagt. Ich war bei diesem Gespräch als Protokollführer dabei.
STANDARD: Hat der Präsident je befürchtet, dass die Entwicklungen im Tienanmen-Stil unterdrückt werden könnten?
Vedrine: Selbst wenn Mitterrand bei mehreren Anlässen befürchtete, dass die Ereignisse außer Kontrolle geraten könnten, wusste er doch, dass Gorbatschow sich weigern würde, Gewalt anzuwenden. Mitterrand hat vor allem später - und zu Recht -, während des unvorbereiteten Zerfall Jugoslawiens, den Ausbruch von Gewalt befürchtet.
STANDARD: Wann waren Sie sicher, dass es in Osteuropa einen unaufhaltsamen Prozess in Richtung Freiheit und Demokratie geben würde?
Vedrine: Im Frühjahr 1988 hatte Mitterrand mich gebeten - die Perspektive einer Demokratisierung und eines Sturzes der kommunistischen Regime im Blick -, Besuche in allen osteuropäischen Ländern vorzubereiten, außer in Rumänien.
STANDARD: Die USA waren zunächst sehr zurückhaltend, Paris und London sollen Washington zur Teilnahme am Maltagipfel gedrängt haben.
Vedrine: Das ist nicht meine Erinnerung. George Bush senior war zu Beginn sicherlich vorsichtig gegenüber Michail Gorbatschow, anders als François Mitterrand und Margaret Thatcher. Bush fragte sich, ob diese politischen Öffnungen nicht eine Falle waren. Doch dann, 1989 und danach, gab es Harmonie zwischen George Bush, Helmut Kohl und François Mitterrand, während Margaret Thatcher die deutsche Wiedervereinigung fürchtete, aber auch den Neustart Europas, was ein Widerspruch war. George Bush war sehr für die deutsche Wiedervereinigung unter der Bedingung, dass sie die Nato nicht schwächte. Das war die alte überholte Angst vor einem neutralen Deutschland. Im Rückblick sieht man, dass das alles gut gemanagt wurde.
STANDARD: Ab wann haben Mitterrand und Kohl über die Wiedervereinigung gesprochen? Warum hat Paris seine Bedenken aufgegeben?
Vedrine: Mitterrand war darauf gefasst. Er hat es sehr früh gesagt (in einem Interview im Juli 1989 ): 1. sie ist legitim, 2. sie muss demokratisch verlaufen, 3. friedlich, 4. Europa nicht schwächen, im Gegenteil - daher kam auch im Dezember 1989 in Straßburg die Einigung zur Einheitswährung zustande.
STANDARD: Sie haben sich später als Außenminister sehr kritisch über die Hypermacht USA geäußert. Wo hat Washington die neuen Weltordnung nach 1989 falsch verstanden?
Vedrine: Meine Formel von der Hypermacht war eine Beschreibung, keine Kritik. Sie hat sich auf Clinton und Bush bezogen. Bush senior und Clinton haben umsichtig agiert. Die Regierung von Bush junior dagegen ist in einen Unilateralismus abgeglitten und in ein karikaturhaftes Schwarz-weiß-Denken. Sie hat am Ende alles nur schlimmer gemacht. So oder so - die westlichen Staaten sind nicht mehr die Herren der Welt, auch wenn sie noch die reichsten und mächtigsten sind.
STANDARD: Was ist die wichtigste Konsequenz aus 1989?
Vedrine: Es war eher das Jahr 1991 - das Ende der UdSSR - als 1989 und die Mauer, das uns in die globalisierte, multipolare, instabile Welt geführt hat.
STANDARD: Einige behaupten, dass 9/11 und der Irakkrieg die letzten Ereignisse einer historischen Entwicklung nach der Implosion des Kommunismus waren.
Vedrine: 9/11 hat nur gezeigt, dass in einer globalisierten Welt auch der Terrorismus global ist. Der Irakkrieg war der Fehler einer sehr eigentümlichen US- Regierung. Alles andere spiegelt die Anpassungen einer multipolaren, instabilen Welt wieder, die noch im Werden ist und in der der Westen nur noch eine relative Führung hat. Er muss lernen, alles mit den anderen Machtzentren zu verhandeln.
STANDARD: Wird Europa zwischen den USA und China in Zukunft eine Rolle spielen können?
Vedrine: Europa wird eine Rolle spielen, wenn die Europäer wollen, dass es eines von fünf oder sechs Machtzentren wird. Die Europäer haben bisher eher gehofft, in einer idealen Welt zu leben, in einer posthistorischen Zone der Ruhe und des Wohlstands. Das ist eine nette Vorstellung, aber damit Europa in der Welt von morgen wirklich Gewicht hat, braucht es etwas anderes. (Markus Bernath und Christoph Prantner, DER STANDARD, Printausgabe, 30.4./1.5. 2009)