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Humanist, der den Dingen ihren Lauf ließ: Michail Gorbatschow.
Seinen berühmtesten Satz hat er so nie ausgesprochen. Am 6. Oktober 1989 sagte Michail Gorbatschow in Ost-Berlin zu Journalisten laut Übersetzung des Dolmetschers: "Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren." Daraus wurde dann: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Als zweitjüngster Parteichef in der Geschichte der KPdSU hat der 1931 geborene Gorbatschow nach seiner Amtsübernahme 1985 versucht, auf das veränderte Leben im morschen Sowjetimperium zu reagieren. Er tat es, wie vieles andere, halbherzig. Auf die offene Diskussion (Glasnost) folgte die notwendige Umgestaltung (Perestroika) des politischen Systems nur rhetorisch. Und nicht einmal das. Am Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei hat Gorbatschow bis zuletzt nicht gerüttelt und damit eine demokratisch-pluralistische Entwicklung verhindert, die in den Teilrepubliken weniger Zentrifugalkräfte freigesetzt hätte.
Er wurde dafür hart bestraft (und hat das auch sicher so empfunden): mit dem Ende der Sowjetunion. Das kreiden ihm bis heute noch viele Landsleute an, die in ihm den Totengräber des Imperiums sehen. Bei der Präsidentschaftswahl 1996 erhielt Gorbatschow weniger als ein Prozent der Stimmen.
Im entscheidenden Moment wurde Gorbatschows Entscheidungsschwäche, Zögerlichkeit, Skrupelhaftigkeit, wie immer man es nennen mag, zur unschätzbaren Tugend. Nachdem Ungarn im Mai 1989 den Eisernen Vorhang geöffnet hatte, forderten auf dem Warschauer-Pakt-Gipfel in Bukarest Anfang Juli Hardliner wie Rumäniens Diktator Ceauºescu und der Bulgare Schiwkow kaum verhüllt militärisches Eingreifen. "Der sowjetische Parteichef sagte nicht, dass er mit den Vorschlägen einverstanden sei; er lehnte sie auch nicht ab; er schwieg beharrlich", schreibt Andreas Oplatka in seinem sehr lesenswerten Buch Der erste Riss in der Mauer.
Gorbatschow ließ den Dingen ihren Lauf, sicher auch aus einer starken humanistischen Grundhaltung heraus, die ihn daran hinderte, Menschen zu etwas zu zwingen, das sie nicht wollten. Durch Nichthandeln ermöglichte er einen historischen Wandel, wie er in früheren Zeiten nur durch exzessive Gewalt erfolgte. Dafür erhielt er 1990 den Friedensnobelpreis.
"Euch steck ich noch alle in die Tasche", sagte Gorbatschow 1981 als junges Politbüromitglied im Zentralkomitee der Partei. Da ahnte er wohl nicht, auf welche Weise sich diese Worte bewahrheiten würden. ( Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 30.4./1.5.2009)