Überspitzt formuliert kann man sagen, dass die Wirtschaft Mittel-und Osteuropa entdeckt hat, der Rest der Eliten nicht. Und das Volk schon gar nicht. Aber es würde sich lohnen, zwanzig Jahre danach.

Die offizielle Politik Österreichs schwankte lange zwischen Abwehr und Unterstützung der Demokratiebewegung im kommunistischen Europa. Kreisky hielt bei der ersten Streikwelle in Polen noch Reden, die polnischen Arbeiter sollten lieber Kohle für die Voest liefern. Vranitzky wagte es nicht, bei einem offiziellen Prag-Besuch den Dissidenten Václav Havel zu treffen. Erhard Busek und Karl Schwarzenberg unternahmen mit Wiener Journalisten und Angehörigen der politischen Klasse Reisen nach Osteuropa und bescherten denen unvergessliche, Augen öffnende Begegnungen a) mit der Realität des "Sozialismus" , b) mit den Großen der Demokratiebewegung wie Havel oder Walesa und c) mit der ungeheuer reichen Welt von Prag, Krakau, Budapest, Lemberg, Belgrad etc.

Diese Welt ist immer noch zu entdecken. Natürlich fahren viel mehr Österreicher als damals "hinüber" , natürlich sind die Beziehungen viel enger geworden - aber die Reaktion auf "den Osten" besteht immer noch zu einem großen Teil aus Abwehr. In den Massenzeitungen und in den Äußerungen der Politik spielen die "Bedrohung" durch zuwandernde Arbeitskräfte, der tatsächlich existierende Kriminaltourismus und zuletzt das große Engagement der Banken in diesem Raum die Hauptrolle. Dass wir dem Engagement der Wirtschaft zusammen mit der Öffnung und dem EU-Beitritt der exkommunistischen Staaten ein gutes Wachstumsprozent verdanken, wird hier und da einmal in ökonomischen Fachartikeln erwähnt. Dass Osteuropa für etliche Angehörige qualifizierter Berufe auch eine Chance darstellt, hat sich nicht herumgesprochen.

Der ORF fährt seine Berichterstattung über diesen Raum zurück und spart an Korrespondentenstellen. Er gibt damit ein Kompetenzfeld auf, das in früheren Jahren einmalig war. Am ehesten funktioniert noch der Tourismus, aber auch hier warten abseits der bekannten Orte noch viele reizvolle Gegenden auf Entdeckung.

Man kann ohne große Übertreibung sagen, dass ein großer Teil der Eliten und ein noch größerer der Bevölkerung geistig die große Wende von 1989 noch nicht bewältigt, verinnerlicht, ja akzeptiert hat. "Der Osten" - dieser Begriff beinhaltet immer noch Abwertung, Fremdheit, Unbehagen.

Die Zeit scheint gekommen, noch einmal einen Anlauf zu nehmen, um diese Mentalität zu überwinden. Die zwanzig Jahre seit diesem Jahrhundertereignis wurden offenbar nicht richtig genutzt. Es ist notwendig, weil trotz der Krise, die auch Mittel- und Osteuropa erfasst hat, unsere wirtschaftliche Zukunft in diesem Raum liegt, bis hin zum Schwarzen Meer.

Es ist auch der Raum, in dem Österreich noch politisch eine Funktion zu erfüllen hat - durch Unterstützung der Zivilgesellschaft in Ländern mit noch immer starken autoritären Strukturen, durch Unterstützung der Beitrittsbestrebungen zur EU, aber auch durch verstärkte persönliche Kontakte. (Hans Rauscher/DER STANDARD, Printausgabe, 02.05.2009)