Bild nicht mehr verfügbar.

"Ich habe als Kind vor keinem Fest so Angst gehabt wie vor dem Muttertag", sagt Margit Schreiner.

Foto: APA-ALOIS LITZLBAUER

Zur Person:

Margit Schreiner, geb. 1953 in Linz, studierte Germanistik. Nach Aufenthalten in Tokio, Paris und Berlin lebt sie seit 2000 in Österreich. Zuletzt erschien von ihr Schreibt Thomas Bernhard Frauenliteratur? (Schöffling, 2008).

Der Muttertag ist der schrecklichste Feiertag von allen Feiertagen. Immer schon malen und basteln sich die Kinder die Finger wund, und die Mütter wissen mit der Zeit nicht mehr, wohin mit all den Muttertagsbildern und Keramikherzen und Holzschnitzereien: "Ich hab dich lieb!" 

Während sich die Heranwachsenden längst nichts mehr von ihren Müttern vorschreiben lassen, es das Familienleben als stabiles Ideal aufgrund der Mobilität usw. kaum mehr gibt, werden Gutscheine ohne Zahl weiterhin drauflos verschenkt ("Fünfmal abwaschen", "Zweimal Fensterputzen", "Fünfzehnmal massieren" usw.) und nie eingelöst. Immer schon und noch immer stürmen wild gewordene Familien zum Muttertag die Gasthäuser, früher die Backhendelstationen, heute die China-Restaurants, und Mutti darf einen Tag lang ruhen. Die amerikanische Frauenbewegung hat ihn erfunden, die Nazis haben ihn mit Mutterkreuzen ideologisiert, und heute lebt eine ganze Industrie davon. Weg damit! Der Geburtstag würde doch vollkommen ausreichen. Beide, Kind und Mutter, könnten die Geburt feiern. Jeder von seiner Perspektive aus. Erst wenn die Mutter tot ist, gehört dann der Geburtstag dem Geborenen allein. 

Angst vor dem Muttertag

Ich habe als Kind vor keinem Fest so Angst gehabt wie vor dem Muttertag. Zuerst, wie gesagt, die wochenlangen Mal- und Bastelarbeiten (nicht jedem liegt das gleichermaßen), dann die heimliche Blumen- und Tortenbeschaffung am Vortag. Alles im Keller verstecken! Am Muttertag selbst dann in aller Herrgottsfrüh aus den Federn steigen, damit man der Mutter zuvorkommt mit Frühstück und Blumenstrauß, falls das überhaupt gelingen kann, weil die Mütter am Muttertag besonders früh aufstehen. Und dann: Wie feiert man einen ganzen Tag lang die Mutter, mit der man sonst hauptsächlich streitet? Da heißt es, Thema um Thema vermeiden. Die Pleite ist vorprogrammiert.

Der Muttertag ist so absurd wie Christi Himmelfahrt oder Fronleichnam. Nur schlimmer, weil für Mütter wie Kinder praktisch nicht ignorierbar. Darum bin ich für die sofortige Abschaffung des Muttertags. 

Die Fünfzigerjahre

Wer aus dem Krieg kommt, ist verroht: Alle Familien in den 50er-Jahren erwarben, sofern sie sich überhaupt um ein Haustier scharten, einen Wellensittich oder einen Kanarienvogel. Höchstens einmal einen Hamster. Aber das war die Ausnahme. Heute hat kein Österreicher einen Wellensittich oder einen Kanarienvogel. Eher ein Pferd als einen Wellensittich. Ich behaupte, das lag an den Müttern. Und am Krieg.

Alles im Keller verstecken!

Eigentlich wollte ich als Kind einen Hund oder eine Katze. Mein Vater wäre vielleicht schwach geworden, aber meine Mutter war strikt dagegen. Ich bekam den obligatorischen Wellensittich. Für mich hatte der Vogel keinen einzigen Haustiervorteil. Weder konnte man ihn streicheln, noch nachts Gassi führen und dabei Abenteuer erleben, noch ihm irgendwelche Probleme anvertrauen. Im Grunde bekam meine Mutter das Haustier. Sie war ganz besessen von der Idee, anstatt mir dem Wellensittich Sprechen beizubringen. Sie stand den halben Tag vor seinem Käfig und sagte mit hoher Stimme: "Burli, Burli, Bussi, Bussi." Dabei steckte sie ihre Nase durch die Gitterstäbe. Aber der Burli gab ihr weder ein Bussi, noch sprach er bis zu seinem Lebensende ein einziges Wort. Er legte nur den Kopf zur Seite und sah meine Mutter aus seinen Knopfäugelchen starr an. Ich durfte mich ihm gar nicht erst nähern. Meistens flatterte er, offenbar zu Tode erschrocken, ins letzte Eck seines Käfigs, wenn er mich nur von weitem sah. Welche Absicht steckte dahinter? Was war das für eine Wellensittichgeneration von Müttern? 

Mutter und Kleinbürgerin

Machte es denen Spaß, Vögel in Käfige zu sperren und ihren Kindern das Streicheln von Tieren ("Hände waschen!") vorzuenthalten? In meiner vor lauter Verboten strotzenden Jugend dachte ich, es läge daran, dass meine Mutter eine Kleinbürgerin war. Kleinbürgerinnen hatten Schrebergärten, Nierentischchen und Wellensittiche. Weltbürgerinnen hatten Windhunde, Papageien oder Löwenbabys. Die Argumente meiner Mutter, die für einen Wellensittich sprachen, erwiesen sich allesamt als schwachsinnig: So einen Wellensittich kann man mit ruhigem Gewissen alleine lassen, wenn man wandert, Ski fährt oder baden geht, hieß es. Fährt man in Urlaub, nimmt ihn die Tante. Ein Wellensittich schmutzt kaum, und am Abend: Ein Tuch über den Käfig und schon schläft er. Ja, dachte ich, das hätten sie auch am liebsten mit mir gemacht: Tuch drüber und eine Ruh ist!

Der Wellensittich schmutzte dann aber ganz erheblich. Wenn wir die Wohnung verließen, kreischte er. Aus Protest! Überhaupt hatte er keine angenehme Stimme. Beim Fernsehen versuchte er, jede Sendung zu überkreischen, bis meine Mutter das Tuch über seinen Käfig legte. Nur dann schwieg er. Im Urlaub war er auch ein Problem. Meine Tante wollte ihn nämlich durchaus nicht nehmen, nachdem sie mitbekommen hatte, welchen Dreck das Vieh in Wirklichkeit machte. Und Schmutz war das Allerletzte, was diese Generation tolerierte. Meistens versorgte ihn dann unsere Nachbarin. Wenn wir vom Urlaub zurückkamen, glich die Wohnung einer einzigen riesigen verkackten Voliere, und Burli flatterte und kreischte noch hysterischer als vorher.

Kartoffelsalat mit Mayonnaise

Ich hasste diesen Vogel. Genauso wie unseren knallroten VW Käfer (das Lieblingshaustier der Väter), die Helmfrisur meiner Mutter (Dauerwelle, toupiert, viel Haarspray drauf) und den Kartoffelsalat mit Mayonnaise von Mautner Markhof.

Alles Nachkriegsphänomene! Besonders der Wellensittich. Wer aus dem Krieg kommt, hängt sein Herz an kein Tier. Pferde schlachtet man, wenn man Hunger hat, wahrscheinlich auch Hunde und Katzen. Wellensittiche nicht. An denen ist nichts dran. Man kann aber ihr Haus verdunkeln, wenn die Bombenangriffe kommen. Und wenn sie reden, dann verraten sie nichts und niemanden. Sie sagen nur, was ihnen beigebracht wurde. Wenn sie denn reden!

Wer aus dem Krieg kommt, für den sind Gefühle ein Luxus, den er sich nicht leisten kann. Jeder Krieg verroht. Wer aus dem Krieg kommt, hängt sein Herz nicht bedingungslos an ein Kind, das dann jederzeit erschossen werden oder verhungern kann. Die Männer weg, die Frauen innerlich zerrissen. Denn was nun? Gefühl, ja oder nein, Liebe, ja oder nein? Die Mütter meiner Generation, behaupte ich, trauten sich erst gar nicht, ihre Kinder zu lieben.
Mutterliebe ist aber keine Wahl. Sie besteht zunächst darin, das Kleinkind zu schützen. Es steht in Kriegszeiten nicht in der Macht der Mütter, ihre Kinder verlässlich zu schützen. Die Kinder der Mütter wurden im Krieg der Vernichtung zugeführt. Das ist eine prägende Erfahrung. Dazu kommt die Schuld, der Vernichtung von anderen Müttern zumindest zugeschaut zu haben. Waren da nicht Mütter, die mit ihren Kleinkindern auf dem Arm plötzlich verschwanden und nie mehr zurückkamen? Unsere Mütter waren entweder Täterinnen oder Mitläuferinnen oder Zuschauerinnen oder Opfer.

Die Sechziger-, Siebzigerjahre

Das Schweigen rächt sich. Und nur fünfzehn Jahre später, Ende der Fünfzigerjahre, die lustigen Familienfeste: „Wollt ihr den totalen Krieg? Nein. Was wollt ihr dann? Viele viele bunte Smarties!" Nach einem gewissen Konsum an Ananasbowle wurde viel gesungen: Zum Beispiel der Kanon Infanterie, Kavallerie, rote Husaaaren, Haubitzenbatterie. Bei „Infanterie" trampelte man mit den Beinen, bei „Kavallerie" wippte man auf und ab, bei „rote Husaren" stand man auf, und bei „Haubitzenbatterie" salutierte man. Da ging es ziemlich rund in den Wohnzimmern, dass die Gläser nur so in den Vitrinen klirrten und die Wellensittiche in ihrem Käfig flatterten und ihre _Federn wie Schneeflocken auf den Boden fielen. Auch In einem Polenstädtchen war ein beliebtes Lied oder - dann aber mit getragener Stimme und mit Tränen in den Augen meines Vaters, der aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammte - Drei weiße Birken in meiner Heimat stehen. 

Kleinbürgerfeste? Ja, dachte ich, der Kleinbürger singt bei spießigen Familienfesten, der Weltbürger geht ins Konzert. Der Kleinbürger trinkt Ananasbowle, der Weltbürger Whisky. Und wenn seine Weltbürgerfamilie zusammenkommt, dann tauschen sie Erfahrungen aus und benehmen sich wie erwachsene Menschen.

Mütter schwiegen passiv mit

Aber dann, mit fünfzehn, das war in meinem Fall genau 1968, war mir der Weltbürger auch wurscht. Und damit auch die Fragen Wellensittich oder Pferd, Familienfeste oder Konzerte, Ananasbowle oder Whisky? Die Arbeiterklasse war das Entscheidende, oder höchstens noch die schwierige Frage: Beatles oder Stones? Und: Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Und: Ist alles Private politisch?
Die Wellensittichgeneration von Eltern wurde nach dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg befragt, das heißt: Eigentlich wurden die Väter befragt. Und die schwiegen. Die Mütter, die nicht gefragt wurden, schwiegen sozusagen in zweiter Linie passiv mit. Dabei hätten sie doch sicher einiges erzählen können, zum Beispiel von ihrer Angst. Das Schweigen war unfassbar für mich. Damals Gott sei Dank! 

Heute ist es nicht mehr unfassbar für mich, sondern fast logisch. Der Täter schweigt, aber auch der Traumatisierte. Als ob ihn ein schreckliches Band mit seinem Peiniger verbände. Erst sehr spät begriff ich, dass auch die Kinder der Opfer vergeblich gefragt hatten. Am ehesten sprechen die, die sich gewehrt haben, und genau die wurden öffentlich nicht befragt. Für alle anderen, Verbrecher, Mitläufer, Zuschauer und Opfer, braucht es Zeit und ein bestimmtes Klima, um sprechen zu können. Das Klima der 50er- und 60er-Jahre kennen wir alle. Und die Zeit?

Ich bin acht Jahre nach Kriegsende geboren, meine beiden Eltern haben zwei Weltkriege erlebt, das war ihre Prägung und, fast möchte ich sagen, sonst gar nichts. Im Zweiten Weltkrieg sind sechs Millionen Juden ermordet worden, insgesamt starben, wie wir heute wissen, zwischen 55 und 60 Millionen Menschen, 30 Millionen davon Russen, sechs Millionen Österreicher und Deutsche. Das ist nicht in zwanzig Jahren zu bewältigen. Auch nicht in fünfzig oder hundert. (Robert Schindel wies in einem Gespräch für die Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7/2001 darauf hin, wie folgenschwer solche Menschheitsverbrechen sind. Unter Bezug auf den Sozialhistoriker Norbert Elias erwähnt er dessen Auffassung, Deutschland leide noch heute an den Folgen des 30-jährigen Krieges.)

Die Dimension von Generationen über Generationen, die es braucht, um Traumata wie den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg zu bewältigen, war mir als Tochter meiner Mutter nicht klar. Mit fünfzehn versteht man nicht viel von der Ungerechtigkeit und der Zähigkeit, mit der die Zeit Rache übt. Die Verbrechen haben nicht alle begangen, die Folgen aber müssen alle tragen. Zuerst die Opfer und die Unschuldigen, langfristig alle. Denn was die Täter und die Kinder der Täter und die Opfer und die, die nur zugeschaut haben, vielleicht noch verdrängen können, lebt weiter in deren Kindern und Kindeskindern. Das nennt man dann Geschichte. Der Gedanke der Erbsünde war für mich mit fünfzehn die größte religiöse Perversion. Heute ist mir die Erbsünde noch das verständlichste der katholischen Dogmen.

Wir sind als Mütter und Großmütter die unmittelbaren Nachfahren einer Generation von traumatisierten Müttern, und in uns schlummern ihre Traumata, um jederzeit aufzuwachen und uns zutiefst zu erschrecken. Uns sitzt der Schrecken unserer Mütter und Väter in den Gliedern! Vielleicht der der Mütter noch mehr als der der Väter. Darin könnte ein Grund dafür liegen, dass wir Mütter heute den Kindern eher alles erlauben als alles zu verbieten.

Wahrscheinlich beginnt jede Trauma-Aufarbeitung abstrakt und individualisiert sich erst mit der Zeit, wo wir dann wieder beim - inzwischen oft belächelten - "Alles Private ist politisch" wären. Und die "Gnade der späten Geburt" kann zu einem ziemlichen Fluch werden, zur Ungnade. Vieles erklärt sich dadurch, wahrscheinlich mehr, als wir je ahnten. Noch immer gilt das Geheimhaltungsgesetz der Familie - Josef Fritzl hat das Prinzip "Am besten bleibt alles in der Familie" zur Perfektion gebracht.

Meine Mutter ist am liebsten den ganzen Tag zu Hause gesessen. Es schien mir immer, als wartete sie auf etwas. Aber worauf denn bloß? Seit ich von Hans-Christoph Buch, Schriftsteller und Kriegsberichterstatter, weiß, dass der Krieg aus Warten besteht, nämlich Warten darauf, dass nichts passiert, kann ich mir die Kreuzworträtselsucht erklären. Und gleichzeitig meine Sudokusucht. Wenn ich mich ohnmächtig fühle, ziehe ich mich in mich zurück, und löse ein Sudoku nach dem anderen, bis ich keine Angst mehr habe, dass doch noch etwas passiert.
Eiserne Ausnahme aller bewährten Familiengeheimnisse waren die Wahlen: Meine Eltern haben mir bis zu ihrem Lebensende nicht gesagt, welche Partei sie wählen, obwohl ich es längst wusste. Mein Vater wählte SPÖ und manchmal ÖVP, ein einziges Mal KPÖ, meine Mutter wählte immer ÖVP. Woher ich das wusste, da sie doch eisern schwiegen? Keine Ahnung, aber ich weiß es.

Unsere angepassten Mütter

Oder die alten Wellensittich-ängstlichkeiten. Was nicht alles passieren könnte: beim Autofahren (das Überholen an sich birgt Lebensgefahr), beim Spazierengehen (da könnte es zum Beispiel zu regnen beginnen oder Hagelkörner wie Tennisbälle könnten vom Himmel fallen), beim Klettern auf die Teppichklopfstangen (Sturz mit Genickbruch, Blutvergiftung durch die rostigen Stangen, der Hausmeister könnte es sehen), beim Tragen von Blue Jeans (die Nachbarn könnten an Verwahrlosung und Revolution denken), beim Onanieren (Rückenmarkschwund!). Und vor allem: Die schlechte Gesellschaft. Wer in schlechte Gesellschaft kommt, ist verloren. Schlechte Gesellschaft aber konnte alles Mögliche sein: Kommunisten, Drogenabhängige, Lehrlinge, die keine höhere Schule besuchen, Schulschwänzer, Pädophile, Kinderverzahrer, Raucher, Homosexuelle, Schmuddelkinder. Unsere angepassten Mütter haben eine Zeit erlebt, in der es lebensgefährlich war, in "schlechte" Gesellschaft zu kommen. Warum haben sie nur geschwiegen, warum haben wir sie nicht gefragt? Wahrscheinlich war es einfach zu früh dazu. Wie aber kommen jetzt unsere Kinder und Enkel dazu, mit Lasten zu leben, die sie gar nicht kennen? Weil: Auch wir haben, wenn überhaupt, nur ein winziges Stück Geschichte abgetragen in unserem individuellen Leben.

Die Achtziger-, Neunzigerjahre

Alles Persönliche ist politisch.Und heute, meine Mütter-Generation und die nächste? Was heute nicht alles passieren könnte: Anleitungen zum Selbstmord auf einschlägigen Webseiten, Chatprogramme, in die sich Pädophile einmischen, Computergewaltspiele, Gewaltfotos auf Handys, Amokläufe in Schulen, Drogen, Hooligans oder jugendliche Faschisten, Glatzköpfe, Schläger und eine unheimliche Durchsichtigkeit durch das weltweite Netz, in das unser Trauma geschickt eingewoben ist. 

Manchmal wird es ganz deutlich. Dann gehe ich durch die Stadt und sehe eine verängstigte Gesellschaft, die ohne ständige Kommunikation mit ihren Handys nicht leben kann. Als ob sie alle auf einen Krieg warteten und dafür mit Handys bewaffnet sein wollten. Manche üben schon mit ihren Videokriegsspielen, manche gehen voran, holen sich die Knarre ihrer Väter und ballern Mitschüler nieder. Oder Kindergartenkinder. Der Anlass ist meist nichtig. Die Jugendobdachlosigkeit nimmt zu, die Selbstverletzungen, Magersucht oder Fresssucht, es gibt immer häufiger suizidgefährdete Fünfzehnjährige. Es gibt eine große Angst vor der Einsamkeit, in der sich ein Abgrund auftun könnte, über den man nicht sprechen kann, weil er im Schweigen versunken ist. Es gibt dafür persönliche Gründe, aber alles Persönliche ist politisch. 

Und wir sind keine Götter. Ein Trauma kann man nicht einfach "bewältigen". Man kann sich aber damit konfrontieren und es dann - je nachdem - in sich verschließen, um lebensfähig zu sein. Das Trauma aber bleibt. Ein Leben lang. Die Konfrontation und das Damit-umgehen-Lernen bleibt uns nicht erspart. Vielleicht ist das sogar die Hauptaufgabe unseres individuellen Lebens. Das heißt, wir müssen die Erbsünden jeweils neu entdecken, aufdecken und definieren. Um sie dann vielleicht - vielleicht - ein kleines Stück für unsere Kinder abzuarbeiten.

Alle traumatisierten Mütter traumatisierter Kinder verlieren ihre Kinder. Ich habe einmal eine Dokumentation gesehen über einen sechsjährigen Buben, der entführt worden war und nach drei Tagen nackt, an einen Baum gebunden, im Wald gefunden wurde. Er hat nicht mehr mit seinen Eltern gesprochen. 

Es ist das nicht ausgesprochene, geschweige denn bearbeitete Faschismus- und Kriegstrauma, das unsere Generation unseren Eltern entfremdet hat und das auch die nächste Generation uns entfremden wird. Bis ins siebte Glied. Oder noch weiter?

Meine Freundin J., die ihr Leben lang gegen und um die Anerkennung ihrer Mutter gekämpft hat, die sie in ihrer Jugend in Ungarn noch gesiezt hat - wenn mich nicht alles täuscht, haben sie sogar Französisch miteinander gesprochen -, hat nach deren Tod gesagt, ihre Mutter sei der wichtigste Mensch ihres Lebens gewesen. Begründung: Wenn ich zu meiner Mutter gesagt hätte, ich habe soeben einen Menschen umgebracht, dann hätte sie geantwortet: Mein liebes Kind, du wirst deine Gründe gehabt haben. Leg dich erst einmal hin und schlafe, ich mach dir eine kräftigende Suppe. Das, sagte meine Freundin J., sei absolutes Vertrauen. 

Das, sage ich, ist das Dilemma. Nicht der Kinder, auch wenn sie bereits über sechzig sind, sondern der Mütter, auch wenn sie erst sechzehn sind. Alles im Leben ist (immer auch) selbst gewählt. Nur: Mutter bleibt Mutter, Kind bleibt Kind. (Bei den Vätern verhält es sich wieder ganz anders. Wie Nanina, meine neunzigjährige Nachbarin in dem Dorf in Italien, immer sagt: Die Mutter ist immer sicher, der Vater nur eine Annahme.) Eigentlich ein schreckliches Band: atemberaubend archaisch, unkündbar wie der Tod. 

Und was ist mit den Müttern der Serienmörder, der Räuber und Vergewaltiger, der Folterknechte? Der Mutter von Josef Fritzl? Du wirst deine Gründe gehabt haben, mein liebes Kind? Ja, ich bin auch so eine Mutter! Und die sollen wir nun feiern? (Margit Schreiner, DER STANDARD/Printausgabe 9.5./6.5.2009)