Neurobiologe Gerald Hüther.

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Verunsicherung und Selbstzweifel haben eine wichtige Erkenntnis- und Wegweiserfunktion.

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In schwierigen Situationen können alltägliche Fragen starke innere Verunsicherung und Selbstzweifel auslösen. Im Interview mit dem Neurobiologen Gerald Hüther versucht Hartmut Volk, Licht ins Dunkel dieser Gefühle zu bringen.

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STANDARD: Was sind das für Gefühle, Selbstzweifel und innere Verunsicherung?

Hüther: Es sind extreme Verschiebungen eines Gemütszustandes dessen Auslenkung in die entgegengesetzte Richtung als völlige Selbstüberschätzung und innere Erstarrung zutage tritt. Den Zustand in der Mitte, im „gesunden" Bereich bezeichnet man als Souveränität und Authentizität. Beide extremen Verschiebungen aus diesem mittleren Bereich sind gleichermaßen gefährlich - sowohl für den, der sie erlebt, als auch für diejenigen, die damit in sozialen Beziehungen, beispielsweise im Verhältnis Vorgesetzter-Mitarbeiter, konfrontiert werden.

STANDARD: Gibt es überhaupt ein Leben ohne Selbstzweifel und innere Verunsicherung?

Hüther: Ein bisschen Verunsicherung und gelegentliche Selbstzweifel gehören zum Leben. Ja, sie sind sogar notwendig, damit wir auch emotional in die Lage versetzt werden, unser Denken und Handeln immer wieder zu hinterfragen und Fehler nicht nur zu erkennen, sondern auch zu korrigieren, um unser Verhalten zu ändern. Denn nur mit emotionaler Betroffenheit wird es möglich, aus eigenen Fehlern zu lernen und sich aus fehlsteuernden Verhaltensmustern zu befreien. Beides, Verunsicherung wie Selbstzweifel, sollten also nicht ausschließlich als „schreckliche" Gefühlzustände angesehen werden. Wichtig ist auch, sich ihrer Erkenntnis- und Wegweiserfunktion bewusst zu werden.

STANDARD: Ab wann werden diese an sich notwendigen Selbstzweifel zum Problem?

Hüther: Problematisch werden Zustände des Selbstzweifels und der inneren Verunsicherung von dem Moment an, wo eine Person nicht mehr imstande ist, sich selbst in diesem Zustand zu beobachten. Wo sie also gar nicht mehr in der Lage ist, den Signalcharakter von innerer Verunsicherung und Selbstzweifel zu erkennen, sondern sie völlig von diesen Gefühlen überschwemmt wird und ihr die Kontrolle über sich selbst verlorengeht. Dann hat sie keine Selbstzweifel, sondern sie verzweifelt an sich selbst, dann wird sie nicht durch irgendein Ereignis verunsichert und zum Nachdenken angeregt, sondern sie ist es gewissermaßen von Kopf bis Fuß.

STANDARD: Können Sie das näher beschreiben?

Hüther: Normalerweise sind wir mithilfe unseres Frontalhirns und der dort erfahrungsabhängig herausgeformten und stabilisierten neuronalen Verschaltungen in der Lage, äußere Ereignisse und innere Empfindungen zu bewerten und auf entsprechende Änderungen von äußeren Anforderungen oder inneren, also körperlichen oder emotionalen Zuständen, durch geeignete Gegenmaßnahmen zu reagieren. Durch eigenes Nachdenken und daraus abgeleitete bewusste Handlungen und Korrekturen finden wir verlorengegangenes inneres Gleichgewicht wieder. Problematisch wird es, wenn diese Ereignisse und die dadurch ausgelösten Gefühle von Selbstzweifel sehr massiv werden.

STANDARD: Was passiert dann?

Hüther: Dann kommt es zu einer so starken Übererregung dieser neuronalen Netzwerke im Frontalhirn mit der Folge, dass dort kein das „normale" Denken und Handeln leitendes Erregungsmuster mehr aufgebaut werden kann. Erlebt wird diese Blockade als ein das Denken lähmender Kontrollverlust. Das führt zur automatischen Aktivierung sogenannter Notfallprogramme und einer damit einhergehenden unkontrollierbaren Stressreaktion. Spätestens jetzt schlägt die anfängliche Verunsicherung um in Angst, und die Selbstzweifel verwandeln sich in ein Gefühl von Hilflosigkeit.

STANDARD: Wieso gerät der eine leichter in diese Überregung als ein anderer?

Hüther: Manche Menschen sind bereits von Kindesbeinen an stärker als andere gewohnt, sich mit Erfahrungen eigener Unzulänglichkeit auseinanderzusetzen. Immer wieder wurden sie in der Familie, in der Schule, während der Ausbildung verunsichert und zur Suche nach besseren Lösungen angehalten. Sie lernten früh, diesen Zustand auszuhalten, sich damit zu arrangieren. Deshalb zeichnen sich diese Personen durch eine bemerkenswerte Resistenz gegenüber destabilisierenden Erfahrungen aus. Andere lernten, sich aufgrund wiederholter Verunsicherungen flexibel an neue Herausforderungen anzupassen. Dadurch erwarben sie ein breites Spektrum unterschiedlicher Kompetenzen und wurden immer besser darin, Probleme, an denen andere verzweifeln, kreativ zu sehen und zu lösen.

STANDARD: Und wem machen nun Ver-unsicherung und Selbstzweifel besonders zu schaffen?

Hüther: Interessanterweise macht innere Verunsicherung vor allem den Menschen zu schaffen, denen bisher mithilfe weniger und sehr einseitiger Strategien zu viel zu gut gelungen ist. Sie hatten in ihrem bisherigen Leben kaum die Notwendigkeit, sich nach anderen Problemlösungsmustern im Sinne von ‚try something new‘ umzusehen. Je häufiger ein Problem erfolgreich auf die gleiche Weise gelöst wird, desto mehr werden aus den anfänglich noc schwachen Verknüpfungen im Gehirn immer besser nutzbare Nervenwege. Dann versucht man immer wieder auf dieselbe gewohnte Weise seine Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Verändern sich dann auf einmal die Problemstellungen und müssten neue, innovative Lösungsstrategien gefunden werden, sitzt man fest und gerät sehr leicht in verunsichernde Selbstzweifel bis zur Panik.

STANDARD: Und der Ausweg aus dieser selbstgebauten Falle?

Hüther: Es klingt paradox, aber der beste Ausweg wäre, erst gar nicht in diese Falle zu geraten. Ideal wäre es, könnte man bereits im Heranwachsen ganz selbstverständlich lernen, sich selbst und seine Vorstellungen immer wieder infrage zu stellen, Probleme achtsamer und behutsamer anzugehen als bisher, sich über eigene Fehler und Schwächen bewusst zu sein, statt sie zu verdrängen. Nichts schützt besser davor, später im Leben unter die Räder von bis zur Lähmung verunsichernden Selbstzweifeln zu kommen. Eltern könn(t)en in dieser Hinsicht viel für ihre Kinder tun und sie dadurch für Anforderungen einer ständig in Veränderung begriffenen Welt stärken.

STANDARD: Nicht alle haben dieses Glück, was tun sie?

Hüther: Wer nicht im Heranwachsen lernen konnte, ganz selbstverständlich das eigene Handeln immer wieder zu hinterfragen, der gerät zwangsläufig in diese innere Verunsicherung, die einen - eigentlich berechtigterweise - an sich selbst zweifeln lässt. Heraus geht es aus diesem Zustand dann meist nur noch, wenn es gelingt, die bisher so erfolgreich eingesetzten Strategien, Vorstellungen und Verhaltensweisen in ihrer Einseitigkeit und Begrenztheit zu erkennen und sich von ihnen zu befreien. Einfach ist das nicht, denn genau diese Denkweisen und Verhaltensmuster sind ja inzwischen Teil der eigenen Persönlichkeit geworden. Hier kommt das ins Spiel, was wir gemeinhin Persönlichkeitsentwicklung nennen, deren immense Bedeutung für unsere heutige veränderungsstarke Welt dadurch vielleicht schlagartig deutlich wird.

STANDARD: Gehört dazu eine ganz pragmatische Kompetenzerforschung?

Hüther: Eine der bedeutsamsten Erkenntnisse der Hirnforschung ist es ja, dass das nackte, rationale Denken allein nur so lange ein geeignetes Mittel zur Lösung von Problemen ist, wie diese Probleme relativ unwichtig sind. Das ist immer dann der Fall, wenn sie uns selbst nicht direkt betreffen. Sobald es aber um uns selbst geht, spielen plötzlich Gefühle und die damit einhergehenden Körperreaktionen eine entscheidende Rolle. Rein kognitive Kompetenzerforschung wird deshalb kaum weiterhelfen, wenn man innerlich verunsichert ist. Dieses Gefühl wird im Hirn in tieferen und älteren Bereichen generiert als das pragmatische Denken. Es ist deshalb stärker und wird diese kognitiven Analysen entweder unmöglich machen oder einfach überlagern.

STANDARD: Wie kann man dann innerlich wieder Boden unter die Füße bekommen?

Hüther: So wichtig es ist, sein Denken und Verhalten zu ändern, noch wichtiger ist der Schritt davor: die innere Einstellung, die das bishe-rige Denken und Verhalten bestimmt, zu verändern. Diese Einstellungen sind in Form komplexer neuronaler Netzwerke im Frontalhirn verankert. Sie sind kein auswendig gelerntes Wissen, sondern durch eigene Erfahrungen entstanden. Deshalb lassen sich diese Netzwerke auch nicht durch kluge Ratschläge, Belehrungen oder gute Vorsätze verändern, sondern nur durch neue, andere Erfahrungen.

STANDARD: Das heißt?

Hüther: Wer aus einem Zustand voller Selbstzweifel herauswill, müsste die Chance bekommen, neue, andere Erfahrungen machen zu können. Beispielsweise die Erfahrung, dass man sich irren und Fehler machen kann, dass gerade die - wird offen und angstfrei mit ihnen umgegangen - ganz wesentliche persönliche, aber auch der Sache dienliche Entwicklungshelfer sein können. Um diese neuen Erfahrungen zu machen, brauchen an sich selbst (ver-)zweifelnde, verunsicherte Menschen Hilfe von außen, Menschen, die ihnen Mut machen oder noch besser, die sie animieren und inspirieren, sich auf das noch glatte Eis neuer Erfahrung zu begeben, Probleme nicht wie bisher zu sehen und zu behandeln, sondern aus einem anderen Blickwinkel und mit anderen Vorgehensweisen anders zu lösen.

Das kann ein Freund sein, ein weitblickender, Führung in ihrer tatsächlichen Doppelfunktion von Fördern und Fordern begreifender Vorgesetzter oder auch ein Therapeut. Wichtig ist in jedem Fall, die Selbstzweifel und Verunsicherungsgefühle nicht zu pathologisieren, sondern eine Strategie des Mutmachens, der Inspiration und der Stärkung innerer Ressourcen zu verfolgen, die das Tor zu neuen, stabilisierenden Erfahrungen öffnet. (DER STANDARD; Printausgabe, 9./10.5.2009)