Jens-Jürgen Ventzki am Bahnhof Radegast. Von dort aus wurden Juden aus dem Lodzer Ghetto in Vernichtungslager gebracht.

Foto: Standard/Piotr Kuroczynski

Wien - Zehn Jahre lag das Buch beinahe unberührt im Bücherregal. Bewusst ausgesucht, gekauft, aber eben unberührt. Es enthält keine leichte Geschichte. Doch mittlerweile kann Jens-Jürgen Ventzki darüber reden. Darüber, dass er der Sohn eines ehemaligen Nazi-Bürgermeisters des polnischen Lodz (früher Litzmannstadt) und Reichsredners, eines rhetorisch geschulten Nazi-Funktionärs, ist. Dass sein mittlerweile verstorbener Vater Zeit seines Lebens innerlich immer ein Hitlerverehrer geblieben ist. Oder dass Werner Ventzki nie zur Rechenschaft gezogen wurde, obwohl aus Dokumenten hervorgeht, dass er das Lodzer Ghetto, das zwischen 1940 und 1944 bestand und wo insgesamt mehr als 200.000 Juden lebten, verwaltete und Kleidungsstücke von Gefangenen, die in den Vernichtungslagern Chelmno (Kulmhof) und Auschwitz ermordet wurden, an NS-Stellen verteilen ließ.

Diese Fakten fand Jens-Jürgen Ventzki im Buch zu einer Ausstellung zum Ghetto Lodz im Frankfurter Jüdischen Museum. Er kaufte das Buch. Das war 1990. Jens-Jürgen Ventzki besuchte Lodz 2001 zum ersten Mal bewusst - er war seit seiner Geburt 1944 nicht dort gewesen.

Ventzkis Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit seiner Familie ist das Thema des Dokumentarfilms Kinder der Täter. Kinder der Opfer. Heute, Dienstag, wird er im Rahmen des EU-Programms Europäische Erinnerungsarbeit in Wien gezeigt. Regisseur Piotr Szalsza will mit dem Film vor allem eines: einen Täter-Opfer-Diskurs anregen. Die Idee entstand nach einem Zusammentreffen von Kindern der Täter und der Opfer in Lodz.

Warum Jens-Jürgen Ventzki so spät die dunkle Vergangenheit seiner Familie aufrollte? "Ich wollte, aber es war ein langer Abnabelungsprozess, und der ist schwierig, wenn man eine böse Vorahnung hat. Zu mir war mein Vater ein liebevoller Vater. Und doch hat er das System voll unterstützt. Innerlich hab ich mich immer mehr von ihm getrennt" , sagt Ventzki im Standard-Gespräch.

Nach dem Krieg zog die Familie nach Bonn, Werner Ventzki arbeitete als Staatsbeamter. Er wurde nie angeklagt. Weder wegen Mords noch wegen Totschlags, denn die Archive wurden in der Zeit des Kalten Krieges nicht geöffnet. "Er fiel unter die Kategorie Schreibtischtäter. Er war politisch involviert und hat alles befürwortet" , sagt der Sohn. Ein Schreibtischtäter, der auch innerfamiliär unterstützt wurde: "Wenn ich über meinen Vater spreche, muss ich immer meine Mutter miteinbeziehen. Ein halbes Jahr, nachdem mein Vater 1931 der NSDAP beigetreten ist, trat auch sie bei. Ohne ihre Unterstützung wäre die politische Karriere meines Vaters nicht möglich gewesen" , sagt der heute 65-Jährige, Vater zweier Töchter.

Geredet wurde in der Familie aber nie über den Krieg und die Verwicklungen der Ventzkis. Als Jens-Jürgen Ventzkis Geburtsort wurde nicht Lodz, wo er in der Bürgermeistervilla geboren wurde, sondern Posen angegeben. Im Film sagt Ventzki, dass der Vater nach wie vor verherrlichend über das Dritte Reich sprach, die Mutter ihn einbremste, damit es die Kinder nicht weitererzählen konnten. Vor dessen Tod 2004 konfrontierte Ventzki seinen Vater. Keine Reue. "Ich wollte mir die Verherrlichung von Hitler nicht anhören und habe die Archive vorgezogen" , sagt Ventzki. "Dass ich in Lodz war, hat mein Vater nie erfahren."

Der Holocaust-Überlebende Leon Zelman - er war auch ins Lodzer Ghetto gebracht worden - unterstützte ihn bei der Spurensuche. Auseinandersetzen: ja; in der Öffentlichkeit: nein - diese Einstellung hatten seine drei Geschwister. Ventzki aber findet: "Es ist die notwendige Weitergabe von Geschichte an die nächste Generation." (Marijana Miljković/DER STANDARD, Printausgabe, 12.5.2009)