München/Wien - Die Wahrnehmung von zusätzlichen, nicht existierenden Gliedmaßen des Körpers ist ein Leiden, das immer wieder bei Menschen nach einem Schlaganfall vorkommt. Von einem besonders extremen Beispiel für diese "Phantomglieder" berichtet der Verband der Neurologen anlässlich des "Tag des Schlaganfalls". Eine Patientin ist seit ihrem kürzlich erlittenen Hirnschlags überzeugt, sie besitze einen zusätzlichen dritten Arm, den sie fühlen, sehen und sogar bewegen kann.

Verschwommenes Sehen bis hin zur Halluzination

Die bildgebende Darstellung dieses Phänomens machte sichtbar, wie drastisch Gehirnschäden die Körperwahrnehmung verändern können. "Bei jeder Gehirnstörung wie bei Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall, Tumor oder Durchblutungsstörung kann es zu visuellen Störungen kommen, die sich wie Halluzinationen äußern", bestätigt Wilhelm Strubreither, Vorsitzender der Gesellschaft für Neuropsychologie.

Die Patientin, die einen dritten Arm verspürt, wurde mittels Magnetresonanz-Tomografie untersucht, um Aufschluss über die Hirnaktivität zu erhalten. Beim Versuch, die rechte, nicht gelähmte Hand zu bewegen, wurde richtigerweise die motorische Region der linken Hirnhälfte aktiviert, während beim Versuch mit der gelähmten linken Hand die rechte Hirnhälfte aktiv war. Wollte die Frau ihre Phantomhand bewegen, war die motorische Region erstaunlicherweise ebenfalls aktiv - was den tatsächlichen Versuch der Bewegung beweist. Nicht minder erstaunlich war die Aktivität im Sehzentrum, die eine Erklärung dafür liefern kann, dass die Frau ihre Hand sehen konnte. Ebenso konnte sie fühlen, wenn sie sich mit der Hand kratzte, da dabei auch die entsprechenden Hirnregionen für Berührung aktiv waren.

Während dieser Fall aufgrund der auch für Motorik und Berührung aktiven Gehirnteile eine seltene Ausnahme bildet und entsprechend für Aufsehen sorgt, kommen Sehstörungen bei Gehirnschädigungen öfters vor. "Am häufigsten sind Störungen der Grundfunktionen wie verschwommenes Sehen, Probleme mit dem Kontrastsehen oder Blitze und Schleier im Blickfeld. Auch Verzerrungen, Verdoppelungen sowie ein Kleiner- oder Größersehen des Umfelds ist möglich", erklärt Strubreither. Daneben gebe es aber auch komplexere Formen, bei denen Patienten etwa nicht anwesende Tiere und Menschen sehen sowie vergangene Begebenheiten in der Wiederholung wahrnehmen. Beim sogenannten Anton-Syndrom glauben Menschen, die aufgrund eines Hirninfarkts der Sehrinde beider Gehirnhälften blind sind, ihre Umgebung zu sehen. Ihre Beschreibungen sind jedoch falsch. "Es gibt auch Patienten, die Gegenstände oder Gesichter nicht mehr wiedererkennen können", so der Neuropsychologe.

Ein spezielles Training bringt Erleichterung

Die Ursache für diese Fehlinterpretationen des Gesehenen liegt im Gehirn. "Die Verbindung zwischen den Gehirnhälften oder deren Sehfelder sind gestört, wodurch es zu diesen Wahrnehmungsstörungen kommen kann", so Strubreither. Eine tatsächliche Heilung gebe es für die meisten dieser Erscheinungen nicht, jedoch könne spezielles Training die visuelle Wahrnehmung zumindest teilweise verbessern. "Mit Patienten, die keine Gesichter mehr wiedererkennen können, trainiert man etwa das Auswendiglernen von Merkmalen, die eine Identifizierung erleichtern sollen. Sind jedoch die visuellen Basisleistungen gestört, bleibt nur die Kompensation und Aufklärung." (pte)