Am Rande einer österreichisch-ungarischen Veranstaltung in Istanbul stellte mir eine türkische Lehrerin die Frage, ob Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union führen wird? Einen Tag später erkundigte sich ein Maturant bei einer anderen Zusammenkunft höflich: Was erwartet eigentlich der Westen von der Türkei? Diese Fragen spiegelten nur das Interesse einer dünnen Schicht der gebildeten urbanen Türken wider, die sich als Europäer fühlen, und waren keineswegs typisch für die allgemeine Atmosphäre.

Verglichen mit meinem letzten Arbeitsbesuch vor sechs Jahren sah ich viel mehr junge Menschen zu Gebetszeiten in den Moscheen und viel mehr Frauen und junge Mädchen mit Kopftuch. Alle Gesprächspartner bestätigten, dass die Islamisierung der Gesellschaft unter der Herrschaft der islamistischen AKP fortschreitet. Damals, 2003, waren die ausländischen Beobachter, auch ich, durch das Reformtempo der Erdogan-Regierung beeindruckt. Es gab Zeichen der Bereitschaft zur schrittweisen Lösung des Zypern-Konflikts, kaum ein Jahr später, im Oktober 2005, begannen die Beitrittsverhandlungen.

Nach anfänglichen Erfolgen und trotz der nach wie vor laufenden Verhandlungen habe ich heute, nicht zuletzt unter der weltweiten Schockwirkung des schrecklichen Massakers von Bilge in Südanatolien, allerdings den Eindruck, dass das Ziel eines EU-Beitritts weiter denn je entfernt zu sein scheint. Die Ermordung von 47 Teilnehmern einer Hochzeitgesellschaft, einschließlich 17 Frauen und 6 Kindern, durch die vom Staat mit automatischen Waffen versorgten und bezahlten „Dorfwächter" in der Provinz Mardin war nämlich viel mehr als eine auch in anderen Balkanländern, vor allem im Kosovo und in Albanien, praktizierte Blutrache.

Hinter dem Blutbad, ausgelöst durch eine Familienfehde, steht laut türkischen Wissenschaftern und Kommentatoren auch die durch den langjährigen Krieg zwischen türkischer Armee und der verbotenen kurdischen Terrororganisation PKK geförderte Brutalisierung und Gewaltverherrlichung durch die elektronischen Medien. In den Tagen nach dem Massaker wiesen sowohl meine Gesprächspartner wie auch zahlreiche Zeitungs- und TV-Berichte darauf hin, dass die seit etwa 20 Jahren organisierten Dorfschützer, deren Zahl heute etwa 65.000 bis 70.000 beträgt, oft nicht Sicherheit schaffen, sondern selbst in Verbrechen verwickelt sind. Oppositionelle Politiker, allen voran die Kurdensprecher, fordern eine Auflösung, AKP-Abgeordnete eine Reform des Systems.

Wie dem auch sei, tragen die immer wieder aufflammende Gewalt in den Kurdengebieten und die Folgen der Rekordarbeitslosigkeit von 15,5 Prozent ebenso wie die Verhärtung der türkischen Haltung in der Zypern-Frage und in der Nahostpolitik zur europaweiten Abneigung gegen eine EU-Beitrittsperspektive der Türkei bei. Präsident Sarkozy, Bundeskanzlerin Merkel und auch der SPÖ-Spitzenkandidat (bei der Europawahl) Swoboda plädieren öffentlich und häufig wohl infolge der Meinungsumfragen nur für eine "engere" oder "privilegierte" Partnerschaft mit der Türkei statt eines EU-Beitritts. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe, 14.5.2009)