Artur Wechselberger (56) ist Allgemeinmediziner mit eigener Ordination in Innsbruck, Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer und Präsident der Tirolder Ärztekammer. Seit vielen Jahren leitet er das Steuerreferat und als Sportmediziner auch das Referat für Sportärzte. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Foto: Standard/Matthias Cremer

Maria Kleteèka-Pulker (39) ist Juristin, Mitglied der Plattform für Patientensicherheit und Geschäftsführerin des Instituts für Ethik und Recht der Medizin, einer Forschungsplattform der Universität Wien in Kooperation mit der Med-Uni. Medizinrecht ist ihr Spezialgebiet. Kleteèka-Pulker ist verheiratet und hat zwei Kinder. 

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Standard: Laut internationalen Statistiken kommt es in 0,3 Prozent aller Behandlungen im Krankenhaus zu Fehlern. Die Ärztekammer will nun österreichweit ein anonymes Fehlermeldesystem installieren. Was erwartet man sich?

Wechselberger: Die Ärztekammer will mit CIRS aktiv ein Zeichen setzen, um eine Änderung in der Fehlerkultur im Gesundheitsversorgungssystem in Gang zu setzen. CIRS ist ein System, das jedem, der Fehlerquellen beobachtet, offensteht. Im Wesentlichen sollen vor allem Beinahe-Fehler erfasst werden. Man weiß ja, dass aus 200 bis 300 Beinahe-Fehlern letztlich ein Fehler resultiert. Uns geht es dabei auch darum, eine Fehlerkultur in Österreichs Gesundheitswesen zu etablieren. Einstweilen leben wir in einem Land, in dem jeder, der Fehler macht, zum Buhmann gestempelt wird.

Standard: Die Initiative der Ärztekammer (ÖÄK) ist nicht unumstritten. Warum?

Kleteèka-Pulker: Fehler- und Lernsysteme sind grundsätzlich wichtige, aber auch sehr verantwortungsvolle Einrichtung zur Patientensicherheit. Deshalb sollte so ein System bei einer unabhängigen Institution und nicht bei der ÖÄK angesiedelt sein. Das hat vor allem auch rechtliche Gründe. Zuerst müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Standard: Was sind Ihre Bedenken?

Kleteèka-Pulker: Es geht dabei um sensible Daten. Die ÖÄK ist zugleich auch für Disziplinarangelegenheiten ihrer Mitglieder zuständig ist. Da muss gesichert sein, dass diese Daten tatsächliche anonym sind und nicht nur anonymisiert. Die ÖÄK als Betreiber hat dann letztlich einen großen Datenpool, welchen sie verwaltet und auswertet. Es muss garantiert sein, dass die Melder auch tatsächlich geschützt sind. Sonst könnten ja Daten in Strafverfahren weitergegeben werden. Bis dieser Schutz auch gesetzlich festgelegt ist, dauert es noch.

Wechselberger: Gerade deshalb haben wir uns ja auch für ein anonymes Meldesystem entschieden. Das System funktioniert so in Deutschland und der Schweiz. Warum also nicht auch bei uns?

Kleteèka-Pulker: Ich denke, dass es wesentlich besser wäre, CIRS bei einer unabhängigen Institution anzusiedeln. Die Plattform für Patientensicherheit wurde genau zu diesem Zweck vor einem Jahr gegründet. Sie vereint alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen bis hin ins Gesundheitsministerium. Das Institut für Ethik und Recht in der Medizin, bei dem die Plattform angesiedelt ist, hat eine Studie gemacht, die alle derzeit im Einsatz befindlichen Lern- und Fehlermeldungen in Österreich evaluiert hat. Ich verstehe nicht, warum dieses Projekt von der ÖÄK allein durchgezogen wird.

Standard: Warum sollte die Plattform für Patientensicherheit hier keine tragende Rolle übernehmen?

Wechselberger: Grundsätzlich ist es nicht von Belang, wer CIRS betreibt. Es geht um Seriosität und natürlich darum, dass so eine Institution Kontinuität gewährleistet und auch einen entsprechenden wirtschaftlichen Beitrag leistet. Die Ärztekammer befasst sich seit Jahren mit der Einführung eines Fehlermeldesystems, die Plattform gibt es erst seit einem guten halben Jahr.

Kleteèka-Pulker: Die Interdisziplinarität wird von der Plattform voll erfüllt. Auch Interessenkonflikte würden sich bei einer unabhängigen Betreiber-Organisation deshalb überhaupt nicht stellen.

Wechselberger: In einem anonymen System geht es nicht um die Unabhängigkeit des Betreibers, sondern darum, wer die Power hat, so etwas zu starten. Wir haben die Expertise und die Unterstützung aus den Ländern, in denen das System schon jahrelang funktioniert. Wir ziehen das auch nicht alleine durch, sondern werden zur Bearbeitung der Meldungen ein Expertenteam haben, in dem andere Berufsgruppen vertreten sind.

Kleteèka-Pulker: Es ist schön, dass Sie die Überschneidungen sehen, es wäre auch schön gewesen, wenn der Plattform für Patientensicherheit diese Vorbereitungen kommuniziert worden wären. Wir verstehen nur die Eile nicht. Darüber hinaus läuft derzeit auf EU-Ebene eine Studie (EuNETPAS - European Network for Patient Safety), welche unter anderem aufgrund der bestehenden Lern- und Meldesysteme in Europa Erfahrungen gesammelt hat und diese Kenntnisse für die Etablierung von neuen Systemen zur Verfügung stellt. Diese Studie hat auch gezeigt, dass nicht-anonyme Meldesysteme wesentlich zur Verbesserung der Patientensicherheit beitragen, weil hier der Lerneffekt wesentlich höher ist.

Standard: Skizzieren Sie doch, wie eine Fehlermeldung ablaufen soll?

Wechselberger: Ein Beispiel aus dem Spital: Wer dort eine kritische Situation beobachtet, sollte die Möglichkeit haben, diesen Vorfall anonymisiert zu melden und Verbesserungsvorschläge zu bringen. Damit aus einem Fehlersystem ein Lernsystem wird, ist es Aufgabe des CIRS-Expertenteams, jene Fälle und Problemlösungen, die auch Relevanz für andere Krankenhäuser haben, herauszufiltern und allgemein zugänglich zu machen.

Kleteèka-Pulker: Einmal ganz abgesehen davon, dass für mich als Juristin die Anonymität und der Schutz des Meldenden gesichert sein müssen, geht es aber doch auch darum, dass Österreich ein kleines Land ist. Stellen Sie sich doch vor, bei einer Operation, die unter Umständen nur an zwei Orten in Österreich durchgeführt wird, passiert ein Beinahe-Fehler. Da ließe sich einfach rückverfolgen, wo das passiert ist. Außerdem sind bei der Evaluierung von Beinahe-Fehlern mitunter auch Fakten wichtig, die ein Melder nicht angegeben hat.

Standard: Sie sind also gegen die Anonymität?

Kleteèka-Pulker: In heiklen Punkten bringt oft erst Nachfragen Klarheit darüber, was passiert ist. Gerade dann, wenn CIRS ein Lernsystem sein will, brauchen die Experten oft Zusatzinformationen, und das ist in anonymisierten Systemen nicht möglich. Die Voraussetzung für den Erfolg solcher Systeme ist, dass in Krankenhäusern ein entsprechendes Umfeld von Offenheit und Transparenz geschaffen wird - und zwar für alle Berufsgruppen. Es gibt in Europa nichtanonyme Systeme, die sehr gut funktionieren. In Österreich bedarf es Änderungen hinsichtlich der Fehler- bzw. Sicherheitskultur.

Wechselberger: Dass Akzeptanz und Kulturwandel eine schwere Arbeit sind, ist klar. Und natürlich werden wir den Krankenhäusern anbieten, zur Aufklärung der Mitarbeiter Vertrauenspersonen auszubilden. Und es ergeht unsere Aufforderung an die Plattform für Patientensicherheit, die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen für ein System zu schaffen, das eines Tages vielleicht nicht mehr anonymisiert sein muss, weil die Melder geschützt sind.

Kleteèka-Pulker: Die Plattform ist nicht der Gesetzgeber.

Standard: Was ist das Risiko eines baldigen Starts?

Kleteèka-Pulker: Dass das System nicht angenommen wird. Das Fehlermeldesystem "Teufelskreis Drogen", das die ÖÄK bei Suchtprävention eingeführt hat, hatte kaum Eingänge. Zudem weiß man, dass derartige Fehlermeldesysteme vor allem von nichtärztlichen Berufsgruppen genutzt werden. Vor dem Hintergrund, dass in vielen Spitälern noch stark hierarchische Rollenbilder gelebt werden, könnte sich das auf die Akzeptanz auswirken.

Wechselberger: Wir starten mit Optimismus und wollen mit CIRS gefährliche Sicherheitslücken schließen, die es schon zu lange gibt.

Kleteèka-Pulker: Wenn es der ÖÄK um die Verbesserung der Patientensicherheit geht und, wie Präsident Wechselberger eingangs gesagt hat, es egal ist, wer Betreiber des CIRS ist, sollten vor dem Start noch offene Punkte im Rahmen der Plattform besprochen werden. Für die Akzeptanz eines solchen Lern- und Fehlermeldesystems bedarf es der Einbindung aller als gleichwertige Partner. (pok, DER STANDARD Printausgabe, 17.05.2009)