Kipppunkt der Moderne: Die "Prozess"-Teilnehmer geraten ins Rotieren, während sich einer von acht "K.s" (Oliver Mallison, li.)
unterweisen lässt.

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Wien - In Franz Kafkas unvollendetem Roman Der Prozess wird K., der "erste Prokurist einer großen Bank", verhaftet. Unklar ist die Anklage. Unklar bleibt aber vor allem die Schuld, deren eine übermächtige Behörde diesen frühen Vertreter der modernen Angestelltenkultur bezichtigt.

Alles, was K. von nun an unternimmt, dient der Beweislastumkehr: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben ...", so beginnt der Roman, so fängt auch das Festwochen-Gastspiel der Münchner Kammerspiele mit Der Prozess im Wiener Volkstheater an.

Aus den Nachstellungen, die der Angestellte mit dem angeklatschten Seitenscheitel über sich ergehen lassen muss, erwächst die Komödie. Sie entsteht aus der nicht für möglich geglaubten Verwandschaft K.s mit Buster Keaton und Charlie Chaplin. Kafkas Texte sind nicht bloß die Rätselprodukte talmudischer Gelehrsamkeit - sie atmen obendrein den Geist der Stummfilm-Ära.

Und so hat Andreas Kriegenburg, der in Wien stets unterschätzte deutsche Regisseur, als sein eigener Ausstatter ein ovales Gipsauge auf die Bühne gestellt. In dessen Mitte rotiert ein Hubpodest, auf das Josef K.s Alltagswelt geklebt wurde. Ein Bett, zwei Tische und 13 Stühle erheben sich gemächlich in die Vertikale, während acht schreckensbleich geschminkte Kintopp-Helden seelenruhig auf ihren angepinnten Stühlen sitzen. Konzipientenzettel bleiben am Boden haften. Sogar aus Mokkatässchen wird in bedrohlicher Schieflage geschlürft.

K. ist nicht mehr er selbst - aber wann wäre er das, von einer anonymen Behörde mit dem Tode bedroht, auch jemals gewesen? Er lebt sein so betrübliches wie hochkomisches Schicksal in acht Stummfilmexistenzen aus. Funny-bones-Komiker beiderlei Geschlechts in eng geknöpften Röcken, die auch Anklagevertretern die gepuderten Gesichter leihen.

Wer Kafka liest und mit den Romankapiteln spielt, muss die Gesetze der Schwerkraft überwinden. Auch die Zuschreibungen personaler Identität sind mit Kriegenburgs genialem Kletterkniff vom Tisch: Jeder kann für jeden einspringen. Was in der von Tango durchpulsten Traumwelt mit einem armen Rechtfertigungsschwätzer passiert, könnte jeden lohnabhängigen Durchschnittseuropäer im Nu betreffen.

Macht sich K. an die Eroberung des traumverlorenen Fräulein Bürstner (Lena Lauzemis), so entsteht aus dem Andrang der Anwärter eine Schlange von Küssenden. Die Heiterkeit, die diesen atemberaubenden Abend erhellt, ist das Produkt einer Zivilisationslüge: Hinter einem Paravent aus Höflichkeitsformen lauert das Unheil.

Soli aus dem Geist des Jazz

K. ist das Ergebnis einer Sprossung. Solche wie ihn gibt es Millionen, und es müssen Annette Paulmann (als Maler Titorelli), Walter Hess (als K.s Onkel), Sylvana Krappatsch (als Kaufmann) ihre Suaden wie Arien abliefern - irrwitzige Soli, am Geist des Jazz geschult, ohne harmonisches Zentrum, aber mit starrem Blick auf das unumgängliche Ende. K. stirbt mit einem Dolch im Herzen, und es ist, als ob "die Scham ihn überleben" sollte.

Die Angestellten sind indessen auf dem nunmehr leeren Podest ins Straucheln geraten. Haben sich an die nackten Holme geklammert - Insekten, genötigt, die "modernen Zeiten" zu überdauern. Gab es je ein Argument dafür, moderne Prosa auf die Bühne zu bringen - so liefert es diese Produktion. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 18. 5. 2009)