Wikipedia über Encarta

Nicht nur der Brockhaus wurde ein Opfer des Medienumbruchs und von Wikipedia. Auch Microsofts Encarta hat nach langem Kampf aufgegeben und wird im Sommer aus den CD-ROM-Regalen verschwinden. Ihre Webseiten sperren im Laufe des Jahres zu.

Wo erstklassige Inhalte fehlten, glänzte die Encarta mit Multimedia: Grafiken, Bilder, Videos

In den 80er-Jahren wollte Bill Gates den PC von seinem technischen Image befreien und strebte eine Partnerschaft mit Encyclopedia Britannica an. Er erwartete die Verdrängung gedruckter Lexika durch CD-ROM. Die Britannica zierte sich, woraufhin Microsoft 1993 die Encarta auf Basis von Funk & Wagnalls Encyclopedia auf den Markt brachte. Später kamen weitere Lexika dazu. Ein außergewöhnliches "Nebenprodukt" war die Encarta Africana, ein vom schwarzen Harvard-Historiker Henry Louis Gates editiertes afroamerikanisches Lexikon. Wo erstklassige Inhalte fehlten, glänzte die Encarta mit Multimedia: Grafiken, Bilder, Videos - mit der Bildagentur Corbis, die Gates erwarb, verfügte die Encarta über reichhaltiges Material.

Wettrennen zwischen Igel und Hase

Dabei hat sie meist die Nase vor der Wikipedia, die auf urheberrechtlich geschütztes, bezahltes Material nicht zugreifen kann. Aber in allen anderen Bereichen war es trotz der immensen Ressourcen von Microsoft ein Wettrennen zwischen Igel und Hase: CD- und DVD-ROM verloren gegenüber dem jederzeit und überall verfügbaren Internet (eine Lektion, die Microsoft nur am Rande, die Musik- und Filmindustrie zentral betrifft). Und wie schon der Brockhaus musste auch die Encarta erfahren, dass selbst eine gut besetzte bezahlte Redaktion keine Chance gegen ein Heer freiwilliger Mitarbeiter hat, das rund um die Uhr an seinem Lexikon wie an einer modernen Kathedrale baut. Wikipedia hat Microsoft jetzt vorgeschlagen, Encarta-Inhalte zu integrieren.

Diskurs

Wikipedia ist damit (fast) endgültig zum Referenzwerk des 21. Jahrhunderts geworden. Die weitere Diskussion um die Qualität des Onlinelexikons ist dadurch nicht beendet, was gut ist: Denn das ganze Projekt beruht auf einem Diskurs darüber, was wir unter "gesichertem Wissen" verstehen.

Mit Wikipedia hat sich unser Konzept, wie Wissen erarbeitet und verteilt wird, verändert. Wikipedia wird nicht nur von tausenden Menschen laufend gepflegt und erweitert. Noch mehr Menschen beäugen diese Inhalte kritisch, was Basis für die qualitative Entwicklung von Wikipedia (und von Wikis außerhalb des Lexikons) ist.

"Autoritäten" als Quelle

Das Misstrauen gegenüber diesem Ansatz ist verständlich, weil unser bisheriger Wissenserwerb an "Autoritäten" als Quelle geknüpft war. Jetzt müsse wir jeder Information mit einem Schuss Skepsis begegnen und sollten Bestätigung (oder Widerspruch) aus anderer Quelle einholen. Den Universitäten, die gegenüber Wikipedia meist allergisch reagieren, müsste das eigentlich selbstverständlich sein: Denn es entspricht ihrem Prinzip des Peer-Reviews. Nur das Wikipedia das Monopol des Wissenschaftsbetriebs bricht. (helmut.spudich@derStandard.at, DER STANDARD Printausgabe 20. mai 2009)